Forschungsreise “Marie Juchacz – Auf der Route des Exils”
Ein Projekt der Erinnerung, der Freundschaft und gegen Rassismus

Marie Juchacz (1879-1956), SPD-Reichstagsabgeordnete, Frauenrechtlerin und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), floh 1933 aus Deutschland, nachdem sie sich die Jahre zuvor in ihren politischen Reden gegen den Nationalsozialismus gestemmt hatte.

90 Jahre danach fährt Lydia Struck im Mai 2023 “auf der Route des Exils” durch Deutschland und Frankreich, an die Orte ihrer Flucht und ihres Wirkens im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sie will mehr zu erfahren und eine Forschungslücke schließen. Lydia Struck ist Hamburgerin, Kulturanthropologin (Biografie- und Provenienzforschung) und Urgroßnichte von Marie Juchacz.

Die Tour begann am 2.5.2023 in Berlin und führt über 2600 km über Köln, Saarbrücken, Metz, Mulhouse, bis in den Süden Frankreichs, nach Marseille und dann Sauvagnon, wo Marie Juchacz versteckt lebte, bis sie 1941 ihre Flucht in die USA fortsetzte.

Mehr Infos und einen Reise-Blog sind zu finden unter: https://www.mariejuchacz.com

 

 

 

2019 feiert der AWO Bundesverband “100 Jahre AWO”

Am 13.12.1919 brachte die Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, Marie Juchacz den Vorschlag zur Gründung einer sozialdemokratischen Wohlfahrtspflege erfolgreich im SPD-Parteiausschuss ein: Der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt wurde ins Leben gerufen.

Die Gründung der AWO

Das Deutsche Reich ist nach dem 1. Weltkrieg wirtschaftlich ruiniert und politisch instabil. Millionen Menschen sind in Not und hungern. Die Kriegsversehrten, die Opfer des Krieges, Witwen und Waisenkinder stehen weitgehend ohne soziale Hilfen da. Eine bisher nicht gekannte Massenverelendung in Deutschland fordert die Selbsthilfe und die praktische Solidarität vieler freiwilliger HelferInnen geradezu heraus. Der Gedanke liegt nahe, aus den verschiedenen Organisationen der ArbeiterInnen-Bewegung eine sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation zu bilden. Doch es ist nicht nur die aktuelle Not der Menschen, die zur Idee einer „Arbeiterwohlfahrt“ führt. Das politische Ziel sollte sein, die stigmatisierende Armenpflege des alten Kaiserregimes abzulösen und die Idee der Selbsthilfe und Solidarität in eine moderne Wohlfahrtspflege hinein zu tragen. ArbeiterInnen sollten nicht länger nur Objekt der Armenpflege sein.

Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident, gab dem jungen Wohlfahrtsverband das Motto mit auf den Weg: „Arbeiterwohlfahrt ist die Selbsthilfe der Arbeiterschaft“. Neben der bestehenden „bürgerlichen Wohltätigkeit“ wurde ein sozialdemokratischer Wohlfahrtsverband aufgebaut. Die Demokratisierung der Gesellschaft und der Verwaltungsstrukturen gehörte ebenfalls zu den Zielen der AWO. Um dieses Ziel auch durch ein demokratisches Berufsverständnis innerhalb der FürsorgerInnen und WohlfahrtspflegerInnen zu erreichen, gründete der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt 1928 seine erste Wohlfahrtsschule. Seit ihrer Gründung ist die AWO eine politische Interessengemeinschaft, deren Mitglieder für soziale Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt eintreten. Jedoch war die AWO deshalb niemals eine ausschließlich der ArbeiterInnenschaft dienende Gemeinschaft.

In den Notzeiten der 1920er Jahre entstand eine Vielzahl von Diensten und Einrichtungen der AWO: Nähstuben, Mittagstische, Werkstätten, Beratungsstellen. Viele sozialdemokratische Frauen und Männer wurden für einen sozialen Beruf ausgebildet. Ziel der AWO war es, soziale Not zu lindern, ihr vorzubeugen, Wohlfahrtsleistungen zu verbessern und moderne sozialpädagogische Methoden anzuwenden. Die diskriminierende öffentliche „Armenpflege“ sollte schrittweise durch eine moderne Fürsorgegesetzgebung überwunden werden. Meilensteine dieses Weges waren das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und die Fürsorgepflichtverordnung von 1924. Die AWO forderte soziale Rechtsansprüche ein. Ihre Mitglieder hatten die verheerenden Notstände als Betroffene selbst zu bewältigen. Vorrangig galt es deshalb, der Massenverelendung mit praktischer Selbsthilfe zu begegnen. Seit 1925 wurde von der AWO eine eigene Lotterie veranstaltet und Arbeiter-Wohlfahrtsmarken verkauft, um die entstandenen und entstehenden sozialen Dienste zu finanzieren.

1926 wurde die AWO als Reichsspitzenverband der freien Wohlfahrtspflege anerkannt. 1931 waren 135.000 ehrenamtliche HelferInnen der AWO in der Kindererholung und im Kinderschutz, in der Altenbetreuung und Jugendhilfe, in Notstandsküchen und Werkstätten für Behinderte und Erwerbslose sowie in Selbsthilfenähstuben tätig.

Die AWO wurde zur HelferInnenorganisation für alle sozial bedürftigen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Konfession.

Zerschlagung der AWO durch die Nationalsozialisten

Mit der Mobilisierung und schließlich Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden alle Ziele der AWO, – ihre Arbeit – zerschlagen. Bei der Abstimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ am 23.03.1933 im „provisorischen“ Reichstag stimmten die 94 anwesenden sozialdemokratischen Abgeordneten geschlossen mit Nein. 26 Abgeordnete der SPD nahmen an der Abstimmung nicht teil: Sie waren verhaftet oder bereits aus Deutschland geflohen. Otto Wels als Fraktionsvorsitzender hielt eine mutige Rede gegen die Zerstörung der Demokratie durch die Annahme des Gesetzes. Da die KPD bereits verboten war, fehlten ihre 81 Abgeordneten bei der Abstimmung. Diese brachte durch die Zustimmung der bürgerlichen Parteien, vor allem des Zentrums, die verfassungsändernde Mehrheit von 444 Stimmen. Das parlamentarische System und die Gerichtsbarkeit wurden ausgehebelt. Die Geschäftsstelle des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt am Berliner Belle-Alliance-Platz wurde am 12. Mai 1933 besetzt. Lotte Lemke, Geschäftsführerin der AWO, erhielt Hausverbot. Guthaben und Güter der AWO wurden konfisziert.

Mit dem Gesetz über die „Einziehung von volks- und staatsfeindlichem Vermögen“ am 14. Juli 1933 „legitimierten“ die Nationalsozialisten ihre Aktionen. Der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt wird zerschlagen. Die Aberkennung des Status` als Reichspitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege erfolgte schließlich am 25. Juli 1933.

Hitlers Versuche zur Überführung der AWO in eine nationalsozialistische Volkswohlfahrt scheiterten jedoch. Führende Frauen und Männer der AWO wurden verfolgt. Solange es die Mittel zuließen, wurde die Hilfe für Notleidende und Verfolgte des Naziregimes in der Illegalität fortgesetzt. Marie Juchacz und viele andere mussten Deutschland verlassen, um einer Verfolgung zu entgehen. In New York gründete Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt USA, um Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus zu leisten. Sie sorgte maßgeblich dafür, dass die Arbeiterwohlfahrt in die CARE-Paketaktion nach Kriegsende einbezogen wurde. Zeitweise zählte die Post mehr als eine Million Pakete pro Monat, die auf Initiative Marie Juchaczs nach Deutschland verschickt wurden.

Neubeginn und Wiederaufbau

Mit dem Ende des Krieges 1945, dem Zusammenbruch und der Teilung des Deutschen Reiches, begann der Wiederaufbau im von den Alliierten besetzten Deutschland; unmittelbar nach Kriegsende auch der Neubeginn und Wiederaufbau der AWO. Sie wurde 1946 in Hannover als parteipolitisch und konfessionell unabhängige und selbständige Organisation wieder ins Leben gerufen.

In der damaligen sowjetischen Besatzungszone wurde die AWO nicht mehr zugelassen. In Berlin besaß sie aufgrund des Viermächte-Status bis 1961 auch für den Ostteil der Stadt eine offizielle Zulassung.

Verfolgung, Zerschlagung, Krieg und Verwüstung hatten die Ideen der AWO nicht zerstören können. Mutig nahmen Ortsvereine der Arbeiterwohlfahrt in den westlichen Besatzungszonen wieder ihre Arbeit auf. AWO-HelferInnen kümmerten sich um Evakuierte und Flüchtlinge, Heimkehrende, Alte und Einsame, um junge Menschen, die Heimat und Eltern verloren hatten.

Kinder- und Jugenderholungsmaßnahmen wurden wieder angeboten, nach alter Tradition wurden Nähstuben, aber auch Einrichtungen der Hauswirtschaft und Mütterbildung eröffnet. 1949 gab es in den drei westlichen Besatzungszonen und Berlin bereits wieder 50.000 ehrenamtliche HelferInnen und 300.000 Freunde und Mitglieder der AWO.

Erfahrung für die Zukunft

Der soziale Rechtsstaat, wie ihn die AWO in ihren Anfängen und ihrem Werden angestrebt hat, ist in großen Teilen Wirklichkeit geworden. Die AWO lässt jedoch nicht nach, in ihren Forderungen nach Reformen und Veränderungen in der Sozialpolitik, in der Gesundheitspolitik, in der Familienpolitik und in der allgemeinen Fürsorge um den Menschen und seine soziale Sicherung. Stets hat sie ihre Forderungen den Parlamenten und Regierungen zugetragen. Daraus sind Gesetze entstanden, die Rechtsansprüche auf soziale Hilfen garantieren. Als ein Beispiel unter vielen gilt dafür die sozialrechtliche Sicherung des Pflegefallrisikos. Die AWO hat neue soziale Aufgaben übernommen, die im Wandel der Gesellschaft ihren Ursprung haben. Dazu gehören die Betreuung der zahlreichen damals derart titulierten „ausländischen ArbeitnehmerInnen“ seit Beginn der 1960er Jahre, die stationäre und ambulante Altenhilfe, die frühkindliche Bildung in Krippen, Kindergärten und Horten, die Pionierarbeit im Sprachheilbereich, die Entwicklung moderner Wohnkonzepte für ältere Menschen, die Suchtberatung und die sozialpsychologische Betreuung. Grundsatz der sozialen Arbeit der AWO ist auch weiterhin die Hilfe zur Selbsthilfe. In allen Bereichen legt die AWO Wert darauf, soziale Aufgaben der Gegenwart mit dem Blick auf die Zukunft zu lösen – mit der Erfahrung für die Zukunft!