„Geflüchtete sind Teil unserer Gesellschaft“
Ursprünglich wollte Sina Conradi (damals noch Ilchmann) nach dem Studium nochmal eine zeitlang ins Ausland und Fulda wieder verlassen. Doch manchmal kommt alles anders: Aus persönlichen Gründen – nicht zuletzt, weil ihr die Arbeit bei der AWO und im Patenschaftsprojekt so gut gefallen hat – ist sie geblieben. “Ich habe gespürt, dass ich hier noch nicht fertig bin,” sagt sie. “Wir haben 2021 nun schon fünfjähriges Jubiläum vom Projekt Patenschaften gefeiert und ich blicke inzwischen stolz auf ein vielfältiges, zukunftsfähiges und vor allem nachhaltiges Projekt.” Im Interview erzählt sie wie es dazu kam.
Frage:
Vor mittlerweile sechs Jahren erreichte die Flüchtlingswelle in Deutschland ihren Höhepunkt. Damals kamen fast eine Million vor Krieg und Verfolgung geflüchtete Menschen zu uns. Mitten in dieser bewegten Zeit bist du zur AWO gestoßen. Wie kam es dazu, dass du das Patenschaftprojekt übernommen hast?
Sina Conradi:
Ich wollte für die Masterarbeit – studiert habe ich Soziale Arbeit in Jena – gerne nochmal nach Fulda kommen. Hier habe ich meinen Bachelor in Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Interkulturelle Beziehungen gemacht und hatte hier deshalb noch Bekannte und Freund:innen. Inhaltlich wollte ich über etwas schreiben, das auch für die Praxis relevant ist. Deshalb habe ich Kontakt mit der AWO und anderen Organisationen in Fulda aufgenommen. Gleichzeitig habe ich mir gewünscht, dass ich parallel ein paar Stunden als Werksstudentin arbeiten kann. Adriana hat zu dieser Zeit schon ein Projekt gefördert bekommen, aber sie hatte noch keine Person, die das hätte übernehmen können, und es deshalb mir angeboten. Das war das Patenschaftsprojekt. Ich habe das Projekt dann im Rahmen von meinem Master seit Mitte 2016 aufgebaut.
Wie hast du die Zeit damals empfunden?
Es war eine spannende Zeit. Es kamen sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland. Es war ein bisschen chaotisch, weil es an allem gefehlt hat. Die Unterkünfte waren voll. Man musste erstmal schauen, wie man alles gehandelt kriegt. Das Patenschaftsprojekt war in dem Moment ein gutes Projekt, denn Ehrenamtliche kümmerten sich um eine Familie oder eine Person, unterstützen sie und schauten, was gebraucht wird.
Wie hat sich das Projekt seitdem entwickelt?
Wir feiern jetzt fünfjähriges Jubiläum. Zu Beginn ging es um die Basisarbeit: ein Konto einrichten, eine Krankenversicherung organisieren. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Es ging dann immer mehr darum, beim Lernen der Sprache zu unterstützen, zum Beispiel durch die Anmeldung bei Sprachkursen. Anschließend vermittelte man den Menschen einen Praktikumsplatz, eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle oder unterstützte sie beim Umzug von der Flüchtlingsunterkunft in eine private Wohnung. Da haben Ehrenamtliche viel geholfen. Auch durch uns wurde es immer mehr zu einem Projekt, was Wert auf die interkulturelle Begegnung legt. Deshalb war es uns wichtig, möglichst Patenschaften auf Augenhöhe zu schließen, wo beide Seiten etwas voneinander lernen können. Viele von denen, die damals von einer Patenschaft profitiert haben, engagieren sich heute selbst ehrenamtlich, weil sie etwas zurückgeben möchten.
Was zeichnet das Projekt aus?
Die Möglichkeit, dass sich Menschen begegnen, miteinander Erfahrungen sammeln. Das ist der beste Weg in die Integration. So entsteht ein Verständnis für andere Kulturen. Das haben wir mit dem Projekt auch von Anfang an beabsichtigt. Das ist ein langer Prozess. Wichtig zu verstehen ist auch, dass Integration beidseitig ist. Nicht nur von den Leuten, die kommen, sondern auch von uns als Gesellschaft. Integration gelingt dann, wenn wir Geflüchtete nicht nur als Zugezogene betrachten, sondern als Menschen, die zu unserer Gesellschaft gehören.
Und heute leitest du neben dem Patenschaftsprojekt auch den AWO Stadtteiltreff Südend in Fulda.
Genau, ich bin hier zuständig für das Südend und Kohlhaus, schaue also, wie ich die Bewohner:innen erreichen kann, welche Aktionen wir machen, wie sie sich füreinander und für ihre Bedürfnisse einsetzen können. Dieser Stadtteiltreff hier ist ein Begegnungsort im Südend, wo Menschen mitmachen können, wo sie Gruppenangebote finden, Hilfe und Beratung bekommen und die Möglichkeit haben, andere Menschen kennenzulernen.
Warum glaubst du, braucht es diesen Stadtteiltreff?
Das Südend ist einer der Schwerpunktstadtteile mit besonderem Förderbedarf. Er ist geprägt durch bestimmte Faktoren, wie einen hohen Migrationsanteil oder auch Menschen, die staatliche Leistungen beziehen. Ich finde, dass es hier deshalb wichtig ist, einen Ort der Begegnung zu haben. Sonst würden die Leute eher übereinander statt miteinander reden, hätten keinen Ort, wo sie sich engagieren können. Hier entsteht viel, auch mit Unterstützung durch die Bewohner:innen, zum Beispiel ein Foodsharing-Kühlschrank oder unser Tauschregal. Letztens hat ein Bewohner eine Gitarre hingestellt und sofort hat sie ein Kind mitgenommen. Es war total schön zu sehen, wie sich beide Seiten darüber gefreut haben.
Wo liegen die Herausforderungen diesen Stadtteiltreff zu leiten?
Die größte Herausforderung ist wohl, dass ich für jede:n die Ansprechperson bin und dadurch viel parallel koordinieren muss. Da muss man schon einiges im Kopf haben und schnell auf die jeweiligen Situationen reagieren können. Sich selbst Grenzen zu setzen und auch auf die eigenen Ressourcen achten – das ist nicht immer leicht.
Wie Politik Soziale Arbeit erleichtern könnte
Wie sähen die optimalen Rahmenbedingungen für deine Arbeit aus?
Ich würde sagen, die habe ich schon. Ich glaube, sehr viel hängt vom Arbeitgeber und der Leitung ab. Wie groß ist der Rückhalt? Wie schnell wird reagiert, wenn ich irgendetwas brauche? Gute Rahmenbedingungen sind aber auch, wenn die Stundenzahl mit den Aufgaben übereinstimmt. Leider ist das meiste unserer Arbeit projektgefördert und dadurch haben wir nur eine begrenzte Stundenanzahl für das, was wir eigentlich machen wollen. Ich habe immer mal wieder das Gefühl, ich würde gern so viel machen, kann es aber zeitlich einfach nicht.
Wäre hier die Politik gefragt, die Finanzierung Sozialer Arbeit zu reformieren?
Ja, unbedingt. Wenn man weiß, ein Projekt geht nur ein Jahr, und dann nicht sagen kann, ob es verlängert wird oder nicht, ist das total schwierig. Siehe das Patenschaftsprojekt. Jedes Jahr bangen wir. Manchmal wissen wir erst im Februar oder März desselben Jahres, dass es für das Jahr weitergeht.
Und dann macht ihr trotz nicht gesicherter Finanzierung weiter?
Ja, denn es gibt oft eine Tendenz, dass es wahrscheinlich weiter finanziert wird. Und wir sehen, die Leute brauchen das Projekt. Gerade wenn es darum geht, die Ehrenamtlichen zu begleiten, können wir nicht einfach sagen, tschüss, wir werden jetzt nicht mehr gefördert. Irgendwie kriegen wir es am Ende immer hin. Das ist typisch für die AWO. Es geht darum, dass es läuft und wir etwas Sinnvolles tun.
Welchen Einfluss hatte und hat Corona auf deine Arbeit?
Man wusste anfangs nicht: Wie lang geht das, was passiert da, was müssen wir überhaupt alles beachten? Dürfen wir öffnen oder nicht? Wir mussten gerade im ersten Lockdown sehr viel runterfahren, haben aber versucht vieles aufrechtzuerhalten, vor allem den Kontakt zu den Bewohner:innen. Vieles wurde digital, was schwierig war. Denn viele Leute sind technisch einfach nicht so gut ausgestattet. Und der Stadtteiltreff lebt davon, dass die Leute zu Hause rauskommen. Als wir in Folge der Lockerungen wieder mehr in Präsenz machen konnten, wurde das sehr gut angenommen.
Hat sich das wieder auf einem normalen Niveau eingependelt?
Ich würde sagen, nicht ganz. Aber wir haben schon wieder einen guten Andrang von Bewohner:innen, viele Leute nutzen den Stadtteiltreff wieder. Mit den Gruppen ist es aber noch so eine Sache. Die Kochgruppe haben wir bisher nicht wieder gestartet, weil wir mit Lebensmitteln sehr vorsichtig sein müssen.
Was motiviert dich an deiner Arbeit?
Der Kontakt mit den Menschen. Gleichzeitig aber auch ein Blick für die Struktur, das große Ganze zu haben, finde ich cool. Ich bekomme super viel positive Resonanz für die Arbeit, die wir hier machen. Das motiviert mich sehr. Auch die Fortschritte von Leuten zu sehen. Wie sie hier plötzlich zueinander finden, wo ich dachte, das würde nicht funktionieren und plötzlich harmoniert es total gut. Zu sehen, dass die Leute mitmachen, sich drauf einlassen, mithelfen.
Wie kriegst du bei den vielen Aufgaben eine gute Work-Life-Balance hin?
Das ist tatsächlich schwierig. Ich lege sehr viel Wert drauf, Arbeit und Privates zu trennen, manchmal gelingt mir das besser, manchmal schlechter. Ich gebe mir aber immer wieder Mühe auf eine gute Balance zu kommen. Mein Ausgleich sind Reisen, die Natur und Bewegung – das tut mir immer gut.
Du bist schon drei Jahre hier im Stadtteiltreff. Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Da ich die Arbeit hier im Stadtteiltreff und im Patenschaftsprojekt wirklich gerne mache, sehe ich mich auch weiterhin an dieser Stelle. Jetzt wartet aber noch eine neue große Herausforderung auf mich: Ich erwarte 2022 ein Kind. Darauf freue ich mich und bin gespannt, wie das so wird. Das bedeutet für meine Arbeit hier natürlich, dass ich erstmal pausieren werde und nach meiner Elternzeit wiederkomme.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.