„Die Corona-Pandemie hat die Kinder verändert“
Sie stammen aus Syrien, Somalia, Afghanistan und vielen weiteren Ländern: die Kinder der AWO KiTa Wirbelwind. Corona habe viele in ihrer Entwicklung zurückgeworfen, meint Tatyana Schönmeier, Leiterin der KiTa Wirbelwind. Im Interview erzählt sie, wie die Pandemie die Kinder verändert hat, verrät wieso sie gern mit Kindern arbeitet und berichtet über ihre Migration von Belarus nach Deutschland.
Frage:
Wir führen dieses Interview Corona-konform über Zoom. Corona hat aber nicht nur dazu geführt, dass sich Menschen verstärkt virtuell treffen. Du leitest die Kita Wirbelwind der AWO Fulda. Wie hat die Pandemie die Kinder verändert?
Tatyana Schönmeier:
Die Pandemie hat die Kinder verändert. Ihnen fehlte der Kontakt zu Freunden. Sie saßen zu Hause. Und die Eltern hatten oft keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Viele haben deshalb in der Pandemie viel und vor allem unkontrolliert Fernsehen geschaut oder häufig am Tablet oder Computer gespielt. Die Kinder haben den Kindergarten vermisst, ihnen fehlte der feste Tagesablauf, die Struktur. Von vielen haben wir mitbekommen, dass sie spät ins Bett gingen, dann lange schliefen.
Was macht das mit den Kindern?
In diesem Alter macht das viel aus. An einem Tag passiert viel in der kindlichen Entwicklung. Und durch die Pandemie waren die Kinder nicht nur Tage, sondern Monate zu Hause. Die emotionale Entwicklung wurde bei vielen etwas gebremst. Ich sage nicht, bei allen Kindern. Denn einige Eltern beschäftigen sich viel mit ihren Kindern. Dennoch können sie nicht die Gleichaltrigen ersetzen. Der emotionale Austausch mit den Freunden, die Rollenspiele, zu lernen mit Streit umzugehen. Wenn Eltern mit ihren Kindern spielen, versuchen sie immer ihnen gegenüber gerecht zu sein. Sie verlieren absichtlich, ärgern die Kinder nicht. Spielen Kinder mit Gleichaltrigen ist das eine realere Situation. Dabei reden wir aber noch nicht von den Kindern, die in ihrer Sprachentwicklung zurückgeworfen wurden. Die meisten Kinder unserer KiTa sprechen zu Hause ihre Muttersprache. Das ist auch gut so, aber so fehlt Deutsch komplett. Nach so einer langen Pause fangen wir also fast wieder von vorne an.
Es war also eine verlorene Zeit für die Kinder.
Genau. Die meisten Kinder, die zu uns kamen, konnten kein einziges Wort Deutsch. Einige von unseren Kindern kamen quasi von der Flüchtlingsunterkunft direkt in die KiTa. Sie haben vieles gelernt und kamen gut in der ersten Klasse zurecht. Wir haben in den letzten Jahren positive Rückmeldungen der Schulen bekommen. Die Kinder, die kurz vor ihrer Einschulung zu uns kamen, konnten die Zeit durch Corona gar nicht richtig nutzen. Deshalb haben wir bei einigen Kindern die Rückstellung empfohlen.
Du sagtest, dass viele Kinder eine Fluchtgeschichte haben.
Mehr als 90 Prozent unserer Kinder haben einen Migrationshintergrund. Zwei Drittel haben einen Fluchthintergrund. Wir haben viele syrische Familien, aber auch Kinder aus Afghanistan, Pakistan, Somalia, Iran, Irak, Albanien, Rumänien und Bulgarien.
Wie die KiTa Wirbelwind Kinder beim Spracherwerb unterstützt
Welchen Einfluss hat diese Vielfalt auf die Arbeit mit den Kindern?
Wir müssen unser Tempo an die Kinder anpassen. Wir wiederholen Dinge oft. Das ist auch ein Grund, warum wir uns für eine Vorschulgruppe entschieden haben. Damit haben wir in den letzten zwei Jahren auch gute Erfahrungen gemacht. In den zwei jüngeren Gruppen, den Schmetterlingen und Igeln, arbeiten wir in diesem Slow-Tempo, damit wir den Kindern die wichtigsten Dinge beibringen können. In der Vorschulgruppe geben wir dann Gas und fördern sie intensiv.
Unterscheidet sich die Arbeit von der in anderen KiTas?
Ein großer Unterschied ist unser Fahrdienst. Durch diesen ist die Arbeit mit den Eltern anders. Wir haben so nicht die Möglichkeit uns täglich mit ihnen auszutauschen. Wenn wir ein ausführlicheres Gespräch brauchen, müssen wir mit den Eltern einen Termin vereinbaren oder mit ihnen telefonieren. Eine Erzieherin muss pro Fahrt sieben Kinder mitnehmen und daran denken, alles einzupacken. Auch das ist anstrengend. In der klassischen KiTa achtet die Mama auf die Jacke und die Mütze.
Die Sprache spielt bei euch eine große Rolle. Wie unterstützt die KiTa die Kinder beim Spracherwerb?
Wir arbeiten mit Piktogrammen, mit Bildern – vor allem in der Vorschulgruppe. So verdeutlichen wir beispielsweise den Tagesablauf. Es sind Zeichen, die das Händewaschen, Jackeanziehen, Aufräumen oder auch das Frühstück abbilden. Die Kinder unterstützen sich aber auch gegenseitig. Es gab schon den Fall, dass ein iranisches Kind, das schon seit einem Jahr bei uns war, ein neues iranisches Kind in den ersten Wochen in der Muttersprache unterstützt hat. In den ersten Wochen ist es sogar erlaubt, in der Muttersprache im Kindergarten zu sprechen. Ansonsten achten wir darauf, dass die Kinder untereinander Deutsch sprechen.
Was motiviert dich persönlich an der Arbeit mit den Kindern?
Die Arbeit mit Kindern insgesamt ist sehr motivierend. Du siehst, wie sie sich entwickeln. Das Kind kommt mit drei Jahren in die Kita und geht mit sechs, sieben Jahren. Wir nehmen das Kleinkind auf und schicken ein Kind mit Persönlichkeit und Kenntnissen in die Schule. Dieser große Entwicklungsschritt macht uns stolz.
Du leitest die KiTa seit ihrer Gründung 2018. Bist du damals zur AWO gestoßen oder warst du vorher schon dort beschäftigt?
Ich bin seit 2015 bei der AWO, habe dort auch mein Anerkennungsjahr absolviert im Projekt „Take-off – Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein“. Da haben wir den Frauen geholfen, Praktika und Jobs zu finden.
Warum Tatyana von Belarus nach Deutschland migrierte
Wie bist du damals zur AWO gekommen?
Nach meinem Studium habe ich lange nach einer passenden Stelle für mein Anerkennungsjahr gesucht und zunächst in der KiTa Sankt Paulus gearbeitet. In dieser KiTa war mein Sohn. Einmal hat man mich nachmittags, als ich ihn abgeholt habe, gefragt, ob ich nicht für sechs Wochen als Vertretung einspringen könnte. Die sechs Wochen wurden dann zu sechs Monaten. Im Anschluss habe ich mein Anerkennungsjahr bei der AWO gemacht. Danach habe ich mich um die Stadtteilarbeit in Ziehers-Nord gekümmert. Der Stadtteil ist mir gut bekannt, weil ich dort in den ersten Jahren in Deutschland gewohnt habe. Ich kenne dort auch viele Bewohner. Die Entscheidung, in die KiTa Wirbelwind zu wechseln, viel mir deshalb nicht leicht.
Was hat den Ausschlag gegeben, dass du dich für die KiTa entschieden hast?
Mein Traumberuf seit meiner Kindheit war es Lehrerin zu werden. In meiner Heimat war ich auch Lehrerin. Ich wollte eigentlich auch in Deutschland Lehrerin werden, doch das wäre ziemlich kompliziert geworden.
Wieso?
Mir wurde nur ein Fach, nämlich Mathe anerkannt. Zum Unterrichten brauche ich aber zwei Fächer. Ich hätte mein Studium also nochmal aufnehmen müssen. In Fulda kann man jedoch kein Lehramt studieren. Mit zwei Kindern zu pendeln wäre aber furchtbar schwierig gewesen. Deshalb habe ich mich 2010 für die Soziale Arbeit entschieden, mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es möglich ist, wieder mit Kindern zu arbeiten.
Du lebst seit 2004 in Deutschland. Ursprünglich stammst du aus Belarus. Welche Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass du dein Heimatland verlassen hast?
Mein Mann ist Russland-Deutscher. Er hatte mir damals erzählt, dass die Familie den Antrag auf Aussiedlung nach Deutschland gestellt hat und seit Jahren auf die Genehmigung wartet. Die kam dann auch nach unserer Hochzeit. Ich wurde also vor vollendete Tatsachen gestellt.
Wie hast du das damals aufgenommen?
Ich habe mir gedacht, okay, man kann es zumindest versuchen. In den ersten Jahren habe ich natürlich mehrmals die Koffer gepackt und wollte zurück. Es war für mich eine ziemlich harte Zeit. Ich war alleine, habe meine Familie, meine Freunde und meinen Beruf zurückgelassen. Irgendwann habe ich mich zusammengenommen und mir gesagt, ich muss da etwas draus machen.
Die Sprache war sicher die größte Hürde, um hier anzukommen, oder?
Genau. Die Kontakte haben sich irgendwann gebildet, durch die Arbeit, durch Praktika. Um sich jedoch in einem Team auch zu beteiligen, muss man die Sprache können. Ansonsten sitzt man irgendwo im Abseits und ist ausgegrenzt.
Wie lange hat es gedauert, bis du dich hier zu Hause gefühlt hast?
Ich würde sagen, erst nach dem Studium. Wo ich wirklich mit der Arbeit angefangen habe, vollbeschäftigt gewesen bin und keine Zeit für schlimme Gedanken hatte.
Warum der Erzieher-Beruf laut Tatyana attraktiver werden muss
Wie hältst du heute den Kontakt zu Freunden und Familie in Belarus?
Mit meiner Schwester telefoniere ich täglich, auch regelmäßig mit meinen Eltern. Bisher sind wir auch mindestens einmal im Jahr dorthin gefahren. Aufgrund von Corona war ich aber schon seit zwei Jahren nicht mehr dort. Es ist auch nicht klar, wann wir das nächste Mal nach Belarus fahren. Der Kontakt zu meinen Freunden ist weniger geworden. Wir verfolgen das Leben voneinander in den sozialen Medien. Wir telefonieren vielleicht an Silvester miteinander. Ich habe aber auch hier Freunde gefunden.
Wie nimmst du die politische Situation in Belarus wahr, die Proteste gegen das Regime?
Ziemlich schmerzhaft. Die Situation ist angespannt, und ich höre viele Meinungen. Vor allem zwischen der älteren und jüngeren Generation gehen die Ansichten auseinander, auch in meiner Familie. Deshalb ist dieses Thema bei uns in der Familie auch tabu.
Angenommen du würdest in Belarus in einer KiTa arbeiten. Wie würde sich die Arbeit im Vergleich zu der in deutschen KiTas unterscheiden?
Ich hatte bis vor drei, vier Jahren noch Kontakt zu meiner Erzieherin. Zu dieser Zeit war die Situation noch so wie früher. In einer Gruppe sind 25 bis 30 Kinder und eine Erzieherin. Es gibt noch eine Erzieherhelferin, die sich eher um Küche und Bad kümmert. Da gibt es natürlich kaum Freiheiten in der Gruppe. Es muss Disziplin herrschen, denn die Erzieherin trägt für die ganze Gruppe Verantwortung und muss daher alle 30 Kinder im Blick haben. Ein Unterschied ist auch, dass es in Belarus keine altersgemischten Gruppen gibt. Das heißt jeder Jahrgang ist unter sich und wechselt auch von Jahr zu Jahr den Raum.
Welche Rahmenbedingungen in der Arbeit mit Kindern müssten sich deiner Meinung nach verbessern?
Was die KiTa angeht, müsste der Personalschlüssel verbessert werden. Auch der Beruf muss attraktiver werden, zum Beispiel durch höhere Gehälter. Man hört immer wieder, mit Kindern arbeiten und dann für so wenig Geld, nie im Leben. Es ist ein anstrengender und sehr anspruchsvoller Beruf. Man trägt Verantwortung für viele Leben, man prägt die Kinder in ihrer Entwicklung. Davon ist auch abhängig, wie sie sich weiterentwickeln. Außerdem müssten Familien außerhalb von Kindergarten und Schule besser unterstützt werden, und zwar nicht nur durch höheres Kindergeld, wo gar nicht sicher ist, wie viel davon bei den Kindern tatsächlich ankommt.
Sondern?
In meiner Kindheit war ich als Schülerin ganztags beschäftigt. Nach der Schule ging ich zur Musik- und Kunstschule. Für meine Eltern war das nicht teuer und wurde größtenteils von der Stadt übernommen. Ich war zwar später zu Hause als meine Eltern, aber mit meinen Freunden zusammen und hatte Spaß. Heutzutage ist die Jugend oft unterfordert und langweilt sich.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.