TEIL 1:
Hausaufgabenhilfe, Geschäftsstelle, Soziale Stadt, Vorstand
Ich ging zunächst zu der kleinen, sympathischen Gruppe der SPD-Frauen. In diesem Rahmen machten wir einen Besuch bei der AWO. In gemütlicher Runde saßen wir bei der Geschäftsführerin Edith Becker in den Räumen in der Von-Schildeck-Straße. Sie erzählte uns von den verschiedenen Aktivitäten und warb um Ehrenamtliche. Das tat sie in so gewinnender Weise (“Wir sind eine große Familie”), dass ich mich sofort angesprochen fühlte. Und ich wurde nicht enttäuscht. Hier fand ich viele interessante, liebe und tüchtige Menschen.
Zunächst arbeitete ich bei der Hausaufgabenhilfe, die die Berlinerin Inge Hesse ins Leben gerufen hatte, zusammen mit Martha Krämer und Ashraf Abedini. Wir betreuten sechs bis acht Migrantenkinder, halfen ihnen bei den Hausaufgaben und spielten hinterher zur Belohnung “Stadt, Land, Fluss”. Sie lernten das Nikolausfest, Weihnachten und Ostern kennen, und an Fastnacht aßen wir zusammen Kräppel und machten Spiele.
Geschäftsleitung, Arbeitsräume der Mitarbeiter, alles war beengt unter einem Dach, und Edith, die Seele vom Ganzen, war immer zu sehen und zu sprechen. Das lief gut bis zum Umzug in die Langebrückenstraße. Da war den Kindern offensichtlich der Weg zu weit, wir warteten vergeblich auf unsere Schützlinge. Ich bat um andere Arbeit. Die Seniorengruppe, geleitet von Emmi Weber und Maria Schermer, konnte Unterstützung gebrauchen. So schenkte ich jede Woche Kaffee aus und lernte nebenbei Senioren, ihre Interessen und Verhaltensweisen kennen. Damals gehörte ich selbst noch nicht so ganz dazu.
Im Jahr 2001 wurde im Rahmen der Sozialen Stadterneuerung jemand gesucht, der auf dem Aschenberg die ehemalige Seniorengruppe von Frau Unverzagt wiederbeleben will. Als Edith uns das sagte, meldete ich mich sofort. Das war die Gelegenheit, eigene Vorstellungen zu verwirklichen. Wie das lief schildert Teil 2 des Berichtes.
Die Gruppe traf sich zunächst im Haus der Malteser, später zog sie ins renovierte Bürgerhaus um. Wir waren froh darüber und fühlten uns dort heimisch unter Gleichgesinnten. Hier fanden die Adventsfeiern und der Neujahrsempfang der AWO statt. Auch profitierten wir von den anderen Veranstaltungen des Bürgerhauses: Fastnachtsfeiern, Länderabende, Ausstellungen – es herrschte ein lebhaftes Treiben um uns herum, an dem auch wir teilnehmen konnten.
Die Verbindungen zur Geschäftsstelle der AWO wurden hingegen schwächer. Kein Wunder, denn nicht nur die räumliche Entfernung spielte eine Rolle, auch die Veränderungen innerhalb der AWO. Aus dem kleinen, familiären Verein wurde ein großer, professioneller Wohlfahrtsverband mit vielen Tätigkeitsfeldern und Zweigstellen im Stadtgebiet. Daher konnte auch der Kontakt zu Mitgliedern und Mitarbeitenden nicht mehr so intensiv gepflegt werden wie in früheren Jahren. Damals fand z. B. jedes Jahr eine größere Busreise für alle Mitglieder statt. Ich habe schöne Erinnerungen an die Reisen an die Ostsee, Dresden und Thüringen.
Zeitweise war ich Beisitzerin im Vorstand. Es war interessant, dadurch ein bisschen vom Innenleben der AWO kennen zu lernen. Durch den oben beschriebenen Wandel hatte ich aber das Gefühl, als Laie keinen vernünftigen Beitrag mehr leisten zu können und stellte mich nicht wieder zur Wahl. (Anmerkung: Wir empfanden das nicht so. Sie war eine Bereicherung.)
Seit ein paar Jahren betreue ich jetzt im Rahmen des Patenschaftsprogramms ein paar Migranten, was mir viel Freude macht. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, und mein Horizont hat sich sehr erweitert. Leider sind die Treffen, die Sina Ilchmann organisierte, zurzeit durch Corona nicht möglich und mit dem digitalen Ersatz kann ich mich nicht so anfreunden.
TEIL 2:
Erfahrungsbericht über die Seniorengruppe am Aschenberg
Wir bekamen einen Raum im Malteser Haus mit Küche nebenan, und mir wurde Adriana Oliveira zur Unterstützung gegeben. Adriana arbeitete im Praxisjahr ihres Studiums bei der AWO mit einer Mädchengruppe zusammen. Diese Mädchen stammten meist aus den Ostblockländern wie so viele Menschen auf dem Aschenberg. Sie mussten mit den Eltern hierherkommen, fühlten sich aber oft nicht ganz wohl hier und beherrschen die Sprache zunächst nicht. Viele hatten und machten Schwierigkeiten. Bei Adriana fanden sie Unterstützung und sollten an regelmäßige Arbeit gewöhnt werden.
Zu jedem unserer wöchentlichen Treffs deckten zwei Mädchen den Tisch, kochten Kaffee und schenkten ein. Beim ersten Treffen standen acht Seniorinnen vier Betreuerinnen gegenüber! Doch langsam wuchs unsere Gruppe. Eine Einladung in den Briefkästen nutzte gar nichts, aber Mundpropaganda bewirkte, dass wir zeitweise über zwanzig Mitglieder hatten. Fast alles waren verwitwete Frauen, nur drei Männer fanden im Lauf der Jahre zu uns. Die Mehrheit waren Vertriebene aus Polen und Tschechien, eine aus Russland, wenige aus Fulda. Ich habe in der gemeinsamen Zeit viel gelernt, viel gesungen, gelacht, recherchiert und erlebt. Es war eine schöne Zeit.
Adriana verband brasilianisches Temperament mit brasilianischem Familiensinn und Verständnis fürs Alter, die Senioren liebten sie. Wir lernten auch ihre Familienmitglieder kennen. Ihre Tochter Priscilla half in der Mädchengruppe mit und ihr kleiner Sohn Leonardo war im Körbchen auf dem Tisch dabei. Im Lauf der Jahre musste sie sich leider immer mehr zurückziehen, da sie größere Aufgaben bekam.
Die Beziehung zu den wechselnden Mädchen war nicht so einfach. Als Bedienung wurden sie akzeptiert, aber sonst eher ignoriert. Als vermehrt Vorurteile gegen Jugendliche auftauchten, ließen wir Mädchen Nachmittage gestalten mit z. B. Thema „Mein Tageslauf“ oder „Meine Kindheit in Sibirien“. Dabei kam heraus, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten und wie sie sie bewältigten. Das Verhältnis besserte sich merklich, und fortan hatten wir immer Kontakt mit allen Altersstufen. Wir bastelten mit Kindern, feierten gemeinsam Erntedank, die Klavierschüler von Tatjana Hirsch probten bei uns das Vorspielen und an Fastnacht besuchte uns die Kindertanzgruppe.
Wichtig waren später die Beziehungen zu Studenten der Hochschule. Sie kamen, um uns für ihr Studium zu befragen über Ernährung, Wohnsituation oder Hilfen im Haushalt. Gudrun und Adriana (eine andere) begleiteten uns im Rahmen ihres Studiums ein ganzes Jahr. Das war ein wechselseitiges Geben und Nehmen: die Studentinnen sammelten Erfahrungen für ihre künftige Berufstätigkeit und die Seniorinnen erfuhren, wie so ein Studium aussieht. Die meisten hatten in ihrer Jugend gerade mal acht Jahre Volksschule erlebt. Als der Wunsch in unserem Kreis auftauchte, einmal die Hochschule von innen zu sehen, organisierte Gudrun eine Besichtigung, an deren Ende wir Kaffee in der Mensa mitten unter den Studenten tranken.
Ein weiteres Vorurteil (von einzelnen laut geäußert, bei anderen sicher latent vorhanden) richtete sich gegen Ausländer. Das ging bis zum demonstrativen Austritt einer Person, wonach die Gruppe allerdings aufatmete. Die Iranerin Ashraf Abedini hatte mir geholfen, nachdem Adriana sich zurückgezogen hatte. Das war der Stein des Anstoßes, aber alle verbliebenen mochten sie gerne.
Vorurteile verloren sich im Lauf der Jahre ganz durch Gespräche, Diskussionen und vor allem durch unsere vielseitigen Gäste. Der Übersichtlichkeit halber schreibe ich sie in einer Liste stichwortartig auf:
Dr. Kohlhammer Amnesty International
Frau Prof. Kroke Help Age
Renate Süß Ehrenamtlich in Thailand bei Straßenmädchen
Margarete Klär Schicksal ihrer Familie in Russland
Irina Taskin und Mann Leben in der Ukraine und Afghansitan
Ashraf Abedini Leben im Iran
Wiebke Hosemann Studentin/Urenkelin von Erna Hosemann, erzählte von den Anfängen und Schwierigkeiten der AWO in Fulda
Silvia Hillenbrand Landespolitik, politische Engagement, Frauen in der Politik
Edith Bing Stadtpolitik
Helmut Schaum Pflegeversicherung – Gesundheitsreform
Jürgen Brehl Jugendprojekte der AWO – Jugendliche im Strafvollzug
Jürgen Becker Seniorenberatung der Stadt
Ingeborg Gutberlet Flüchtlingspolitik
Thomas Sitte Palliativarbeit
Elfi Makowka Mitglied der Ethikkommission zu Patientenverfügungen am Klinikum
Inga Herget Telefonseelsorge
Werner Krah Arbeit der AWO
Helmut Schaum Reiseberichte, Bilder und Filme von etlichen Ländern
Auch aus unserem kleinen Kreis fanden sich Aktive für das Gestalten interessanter Nachmittage:
Elke Hagner Informative Vorträge mit hinreißenden Bildern aus Südamerika, Indonesien, Indien, Nepal, Peru und Bolivien
Adriana Oliveira Bericht von Studienfahrten mit der Hochschule
Hildegard Kronenberg Erzählungen aus ihrem bewegten Leben, Vorlesen aus ihren eigenen Büchern (in Edelzell wurde inzwischen eine Straße nach ihr benannt)
Friedel Stachetzki zeitweise die älteste Frau Fuldas: Sie hatte unzählige Gedichte im Kopf und konnte sie wunderbar vortragen
Marga Maul hatte ein Buch über ihre Kindheit und das bäuerliche Leben in Hofbieber geschrieben. Ihre Geschichten begleiteten uns durch das Jahr und waren Grundlage für Gespräche. Sie weckten auch bei anderen Erinnerungen, und die Geschichten sprudelten nur so aus dem reichen Schatz von langen Leben. Überhaupt war das Redebedürfnis groß, und es war für mich ein Balanceakt, diesem berechtigten Bedürfnis nachzugeben und trotzdem nicht den Faden zu verlieren.
An Fastnacht konnte ich die schauspielerischen und gesanglichen Leistungen von Maria, Rosi, Marga und den anderen bewundern. Es schlummerten so viel Begabungen in dieser Generation, die keine Möglichkeit zur Entfaltung gehabt hatten. Gerade mal acht Volksschuljahre, sonst nur Arbeit, Krieg, Not und Vertreibung.
Das Singen war sehr beliebt, früher ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Alle freuten sich, wenn Thea Hornung und Elfi Kister mit ihren Gitarren kamen, später manchmal auch das Ehepaar Seidel mit Akkordeon. Dann erklangen die beliebten Volkslieder, und immer wieder, wenn eine Melodie zu hoch wurde, sang Herr Seidel aus dem Stegreif eine zweite Stimme dazu.
In den ersten Jahren haben wir oft gebastelt, die Neigung dazu ließ mit den Jahren aber nach. Dagegen nahm das spielerische Gedächtnistraining zu. Es musste allerdings Pfiff haben und nicht nach Schule aussehen. Dann bewegte man gerne den Körper und die grauen Gehirnzellen. Es wurde meist sehr lustig, kurzfristig aber auch leise und konzentriert.
Ich setzte oft Gespräche über alle möglichen Themen ins Programm. Dabei fiel auf, dass freies, aber geordnetes Reden und Diskutieren in dieser Generation nicht vorkam, im Gegensatz zur jetzigen, wo es schon im Kindergarten geübt wird. Ich selbst habe diesen Wandel nach dem Kriege in der Schule erlebt und zunächst als merkwürdig empfunden. Auch in unserem Kreis gewöhnte man sich an effektives Diskutieren, und wir hatten viele interessante Gespräche.
Höhepunkte waren in der schönen Jahreszeit unsere Fahrten in die nähere und weitere Umgebung. Anfangs fuhren wir meist mit zwei Kleinbussen von der AWO, später auch mein einem Bus, ergänzt durch Privatautos Das reichte von Besuchen in die Aschenberger Kleingärten, ins Umweltzentrum, über Ziele in der Rhön und im Vogelsberg bis zu einem Tagesausflug in das thüringische Dermbach. Wurde anfangs immer noch etwas besichtigt, schrumpften die Fahrten zu Kaffeefahrten. Hier merkte man am deutlichsten unser Altern, die Kräfte ließen nach.
Etliche hatten uns schon verlassen waren gestorben, zu Verwandten gezogen oder in ein Heim gegangen. Für neue Mitglieder waren wir zu alt, wir schrumpften. So entschloss ich mich 2017, inzwischen auch schon 83 Jahre alt, aufzuhören. Ein kleines Grüppchen hat sich mit Lilo Mistretta hin und wieder noch getroffen, bis der Corona-Lockdown kam.