“Migranten haben oft Angst, nicht verstanden zu werden.“
Sibirien und Deutschland trennen Tausende Kilometer. Dennoch machte sich Nina Izkov gemeinsam mit ihrer Familie vor 20 Jahren auf den Weg nach Fulda und entschied sich, ihre russische Heimat zu verlassen. Seitdem lebt sie auf dem Aschenberg. Warum sie diesen Schritt wagte, welche Hürden sie auf dem Weg zur Integration überwinden musste, und wie die AWO sie unterstützt hat, berichtet die heutige Erzieherin der Kita „Wirbelwind“ im Interview.
Frage:
Du bist Erzieherin in der AWO-Kita „Wirbelwind“ in Fulda. Was macht dir Spaß an der Arbeit mit den Kindern, was motiviert dich daran?
Nina Izkov:
Dass die Kinder immer offen und ehrlich, dass sie ständig am Lachen sind. Mir macht es Spaß, sie zu begleiten und zu unterstützen. Dass sie zu uns kommen und sich in der Kita wohlfühlen, ist mir wichtig.
Die Kita „Wirbelwind“ gibt es erst seit 2018. Warst du davor bereits bei der AWO beschäftigt?
Ja, ich bin mittlerweile seit rund 18 Jahren bei der AWO. Damals war meine Tochter erst drei Jahre alt. Ich habe mit ihr verschiedene Veranstaltungen und Kurse besucht und mich auch ehrenamtlich engagiert. Als meine Kinder älter wurden, konnte ich meinen eigenen Weg gehen und eine Ausbildung machen.
Welche Aufgaben hast du bei der AWO damals ehrenamtlich übernommen?
Ich habe nachmittags das Familiencafé geleitet und beim Mittagstisch mitgeholfen. Ich war beim Mini-Club als Mutter im Elternbeirat. Dort habe ich die Kasse geführt. Es war eine schöne Zeit. Mit Menschen zu arbeiten und zu beobachten, wie unterschiedlich alle sind, hat mir Spaß gemacht. Denn ich bin jemand, der friedlich ist und gerne allen hilft, egal woher sie kommen. Für mich gibt es keine Nationalitäten. Es gibt in jedem Land gute und weniger gute Menschen. Ich bin schon seit 20 Jahren in Deutschland, und es war nicht immer leicht. Doch ich hatte Glück, dass mich auf meinem Weg, auch bei der AWO, immer gute Menschen begleitet haben. So konnte ich mich weiterentwickeln.
Bist du direkt vor 20 Jahren mit der AWO in Kontakt gekommen?
Nein, damals war ich zunächst ein Jahr im Mutterschutz und habe anschließend einen Sprachkurs gemacht. Erst danach, also vor 18 Jahren, habe ich die AWO kennengelernt. Mein erster Kontakt war mit Adriana Oliveira, der heutigen Quartiersmanagerin in Ziehers-Süd. Sie war zu der Zeit selbst neu bei der AWO und machte gerade ihr Anerkennungsjahr auf dem Aschenberg. Damals hat sie ein Sommerferienprojekt organisiert, an dem ich mit meiner Tochter teilgenommen habe. Seitdem hat sie uns zu vielen Veranstaltungen eingeladen. So bin ich bei der AWO reingerutscht und fand es toll. Denn das Bürgerzentrum auf dem Aschenberg ist ein Schatz. Hier werden alle Generationen gefördert und Menschen können soziale Kontakte knüpfen.
Wie Nina Deutsch lernte
Wie schwierig war es für dich, nach dem Mutterschutz Deutsch zu lernen?
Das war nicht leicht. Ich habe schon viel erlebt und kann deshalb verstehen, wenn unsere Eltern Schamgefühl haben, jemanden etwas zu fragen. Wenn du ihnen „Guten Tag“ sagst, erwidern sie das schnell, schauen dich aber nicht an. Denn sie haben Angst, nicht oder falsch verstanden zu werden. Ich habe auch diese Erfahrungen gemacht und kann daher nachvollziehen, wie es den Kindern in unserer Kita geht, die noch nicht so gut sprechen können. Ich weiß aus dieser Erfahrung heraus, was sie brauchen und wie ich sie unterstützen kann. Und auch, wie sich die Eltern fühlen.
War es damals schwer, einen Platz für einen Sprachkurs zu bekommen?
Die Aussiedler, die nach Deutschland gekommen sind, bekamen gleich einen Sprachkurs. Der dauerte sechs Monate. Durch die Arbeit und meine sozialen Kontakte habe ich die Sprache stetig verbessert und gefestigt.
Du stammst aus Russland. Was waren deine Gründe, vor 20 Jahren nach Deutschland auszuwandern?
Meine Oma ist Spätaussiedlerin. Meine Familie und ich sind zusammen in Omas Heimat gekommen. Ich habe also in Deutschland meine Wurzeln.
In Russland hattest du dir bereits ein Leben aufgebaut. Wie schwer fiel es dir, dort alle Zelte abzubrechen und dir hier eine neue Existenz aufzubauen?
Ich bin mit 24 nach Deutschland gekommen, war schon verheiratet und habe als Krankenschwester in der Gynäkologie gearbeitet. Es war eine spontane Entscheidung, nach Deutschland zu kommen. Die Oma wollte immer nach Deutschland, der Opa aber nicht. Als er starb, hat sie die Ausreise beantragt und auch genehmigt bekommen. Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Wir haben uns letztlich dazu entschlossen, Oma zu begleiten. Weil wir in Deutschland Verwandte hatten und auch meine Oma, meine Mutter und meine Geschwister auswanderten, war es für mich keine schwere Entscheidung. Natürlich wollte ich da mit. Seitdem wohnen wir alle auf dem Aschenberg.
Erinnerst du dich noch an deine Ankunft in Deutschland?
Wir fuhren mit dem Bus und haben uns gefreut. Wie schön es hier aussah, und hier war es noch so warm und die Sonne schien. Das war im Oktober. Wir kamen mit dicken Jacken, denn bei uns in Sibirien gab es zu der Zeit schon Frost. Zur Dämmerung kamen wir dann in Friedland an. Die Leute wurden von ihren Verwandten abgeholt. Aber als ich aus dem Bus stieg, war niemand da. Das war ein mulmiges Gefühl. Du weißt nicht, was auf dich zukommt. Unsere Verwandten kamen dann am nächsten Tag. Sie haben uns begleitet und für uns eine Wohnung am Aschenberg gefunden.
Warum Nina ihren Beruf wechseln musste
Wie hat sich dein Leben in Sibirien von dem hierzulande unterschieden?
Wir haben ländlich gelebt, hatten einen Obst- und Gemüsegarten, ein Kartoffelfeld, Kühe und Schafe. Mein Gott, so viel Arbeit. Und plötzlich lebten wir in einer Stadt. Dazu kommt, dass unsere Dörfer in Russland schon ein bisschen anders aussehen als in Deutschland. Die Architektur ist anders, alles hier war viel schöner. Bis jetzt denke ich mir, wie schön die Gebäude hierzulande aussehen und wie freundlich die Leute sind. Für mich war es anfangs ein Schock als wir spazieren gingen und Fremde plötzlich „Guten Tag“ oder „Guten Morgen“ sagten. Am Aschenberg ist das so.
In Russland hast du im Krankenhaus gearbeitet, in Deutschland bist du Erzieherin. Warum hast du dich hier für einen anderen Beruf entschieden?
Anfangs wollte ich den Beruf gar nicht wechseln. Ich bin einmal zur Krankenschwesternschule gegangen und habe dort eine Art Aufnahmetest geschrieben, sprach aber kaum Deutsch. Ich habe trotzdem gut abgeschnitten und sie wollten mich aufnehmen. Damals war ich überglücklich. Aber: Während meines Sprachkurses habe ich meine Lehrerin gefragt, ob ich mein Schulzeugnis anerkennen lassen soll. Sie meinte, wenn du es mal brauchst, machst du es. Jetzt kam dieser Zeitpunkt. Doch die Anerkennung hat mehr als sechs Monate gedauert, ich hätte sie aber sofort gebraucht.
Wie ging es dann weiter?
Ich wollte nicht einfach zu Hause bleiben und mein Brot gratis essen. Deshalb habe ich immer wieder in ganz unterschiedlichen Bereichen gearbeitet, viel ehrenamtlich, auch Ein-Euro-Jobs. So konnte ich mich hier sozialisieren, Kontakte knüpfen, Strukturen kennenlernen und die Sprache verbessern. Ich habe so viel gearbeitet, dass das mit der Ausbildung untergegangen ist. Damals war ich auf Sozialhilfe angewiesen und konnte nicht einfach sagen, ich fange jetzt eine Ausbildung an. Das konntest du nicht wählen.
In welchen Bereichen hast du gejobbt?
Ich war im Hotel, im Cinestar, mal beim Klinikum, mal habe ich in der Schule geputzt. Ich wurde überall hingeschickt. Was ich bei der AWO gemacht habe, wurde zum Teil auch vom Amt unterstützt. Die Ein-Euro-Jobs waren häufig nur für drei Monate, einen Tag vor dem Ende dieser Frist, bekam ich dann einen Brief für eine neue Stelle. Ich war auch im Second-Hand-Laden der Diakonie, bei KiK, habe ein Praktikum bei Karstadt gemacht. Dort habe ich in dieser Zeit als Maßnahme vom Kreisjobcenter ein Kassentraining absolviert. Viele Praktikanten bei Karstadt durften nicht an die Kasse, sondern nur die Regale auffüllen. Zu mir hatten die Kolleginnen und Kollegen von Anfang an Vertrauen. Ich habe fleißig gearbeitet und bekam überall gute Zeugnisse. Das und das große Vertrauen in mich hat mich gestärkt. Nach meinem Praktikum dort haben sie mich immer eingeladen, als Aushilfe in der Weihnachtszeit zu arbeiten. Die Zeit war schön, aber meine Kinder waren noch jung und ich konnte deshalb nicht in Vollzeit arbeiten.
Wie kam es, dass du dich schließlich für eine Ausbildung zur Erzieherin entschieden hast?
Ich wollte immer eine Ausbildung machen, war mir aber nicht sicher, welchen Weg ich in meinem Alter gehen konnte. Ich hatte zwei Kinder, war alleinerziehende Mutter. Ich war oft bei der Beratung des Jugendmigrationsdienstes bei uns im Haus. Sie meinten, in meinem Alter sei die Erzieherausbildung fast die einzige Möglichkeit. Ich dachte mir, warum nicht. Das könnte mir auch gefallen. Dann bin ich zum Amt gegangen mit all meinen Unterlagen. So bin ich zu meiner Ausbildung gekommen.
Und dann ging es direkt los?
Ich habe als erstes ein Vorpraktikum gemacht, also sechs Monate Vollzeit gearbeitet. Das war zunächst eine Umstellung, weil mein Sohn noch in der Vorklasse war. Es war keine so leichte Zeit. Auch sprachlich, wenn ich an die vielen Fachbegriffe in der Schule denke. Das Praktikum in der Kita Dreikäsehoch war super, auch dort habe ich gute Menschen getroffen, die mich motiviert haben. Es ist sehr wichtig, Menschen zu treffen, die dich ermutigen.
Wie Nina zur Kita „Wirbelwind“ kam
2018 hast du schließlich dein Anerkennungsjahr in der Kita „Wirbelwind“ der AWO gemacht.
Ja, meine heutige Kollegin Irina sagte mir, die AWO macht eine Kita auf. Daraufhin habe ich Adriana angerufen und nachgefragt. Sie meinte: „Du bist schon längst dabei.“ „Wie, ich bin schon längst dabei?“ „Ja, Nina, mach’ dir keine Sorgen und komm’ zum Vorstellungsgespräch.“ Und ich habe schon hin und her überlegt, wo ich mich denn bewerben sollte. So bin ich hier gelandet. Für mich ist es wichtig, die Kinder hier zu unterstützen, weil mein Weg ähnlich war.
Was gibt dir Kraft für die Arbeit in der Kita, wie sieht dein Ausgleich aus?
Mein Garten. Da arbeite ich noch bis um 21 Uhr. Manchmal fahre ich direkt in den Garten und komme gar nicht erst nach Hause. Dort komme ich wirklich zur Ruhe. Das ist mein Hobby. Einen Ausgleich bekomme ich aber auch durch meine Familie. Kaum komme ich nach Hause, fragen meine Kinder schon, wie mein Tag war und wie es mir geht. Das ist sehr wertschätzend. Sie sagen mir, ich habe dich lieb, ich bin stolz auf dich Mama.
Hast du einen Wunsch an die Politik, um die Arbeit in der Kita für alle angenehmer zu gestalten?
Natürlich bräuchten wir mehr Personal. Es geht um Qualität, es geht um die Kinder. Wir sind zwar momentan gut besetzt, aber wenn jemand krank wird, ein anderer im Urlaub ist und du Kinder zur Eingewöhnung hast, wird es trotzdem eng. Um den Kindern besser gerecht zu werden, ihnen mehr geben zu können und individuell auf ihre jeweiligen Bedürfnisse eingehen zu können, braucht es mehr Fachkräfte. So hätten wir auch mehr Zeit, Angebote und Projekte vorzubereiten. Was bleibt den Kindern an ihre Kita-Zeit in Erinnerung, wenn sie aufgrund des Personalmangels Dinge machen müssen, die sie nicht wollen, zum Beispiel mittags schlafen oder sich eine Geschichte anzuhören, auf die sie keine Lust haben? Und das nur, weil es die Betreuungssituation erschwert, allen Wünschen der Kinder gerecht zu werden. Es ist schöner, wenn sie das machen können, worauf sie Lust haben und ihnen so die positiven Dinge in Erinnerung bleiben. Dafür wünsche ich mir, dass der Personalschlüssel geändert wird.
Wie würdest du dein bisheriges Leben in Deutschland rückblickend bewerten?
Ich habe so viel erlebt. Andere sind nach Hause gekommen und haben sich hingelegt. Ich habe in dieser Zeit viele Termine erledigt, zum Beispiel meine Tochter zur Musikschule gefahren. Ich bin immer Mensch und mir selbst treu geblieben. Ich habe andere in ihrer Unterschiedlichkeit immer akzeptiert und Wert geschätzt. Immer wieder haben mich gute Menschen auf meinem Weg begleitet.
Welchen Tipp würdest du anderen Migranten aus deiner Erfahrung geben, die vielleicht in diesem Moment nach Deutschland einreisen?
Ich wünsche ihnen, dass sie von den Menschen hierzulande verstanden werden, von diesen Menschen unterstützt werden. Sie sollten sich nicht in ihrer Wohnung verstecken und vor der Außenwelt verschließen, sondern die Angst und die Scham, die Sprache noch nicht richtig zu beherrschen, durchbrechen. Sie sollten sich trauen, die Sprache lernen, immer weiter gehen und nicht stehen bleiben.