„Viele Jugendliche sind privat und beruflich überfordert“
Tag ein Tag aus Rechnungen schreiben und Belege prüfen wollte Verena Schulenberg nicht. Die gelernte Bürokauffrau probierte sich aus und merkte schnell: Dieses „Büroding“ passte nicht zu ihr. Heute arbeitet die gebürtige Thüringerin für die AWO im Projekt „Lohn und Brot“. Im Interview blickt sie auf ihre mehr als 22-jährige Zeit bei der AWO zurück, verrät wie sich „Lohn und Brot“ seit seinen Anfängen entwickelt hat, welche Ziele es heute verfolgt und spricht über ihre Pläne für die Zukunft.
Frage:
Erinnerst du dich noch, wie du vor 22 Jahren zur AWO gekommen bist?
Verena Schulenberg:
Über meine Zwillingsschwester. Sie hat damals als Honorarkraft für Streetwork im Bereich offene Jugendarbeit das Café Panama mitentwickelt und dort gearbeitet. Mit dem Café Panama in der Langebrückenstraße 14 wollte man den jungen Leuten, die am Bahnhofsplatz oder im Schlosspark rumhingen, einen Ort zum Treffen geben. Das Projekt „Lohn und Brot“ ist dann auch aus der Streetwork-Arbeit im April 1999 als Kooperation des Jugendwerks der AWO und Streetwork Fulda für orientierungslose junge Männer, die Hilfe beim Einstieg in einen geregelten und strukturierten Alltag Unterstützung benötigten, entstanden.
Das heißt, die AWO hat damals Mitarbeiter:innen gesucht, die gut in das Projekt passen würden.
Genau. Ich kannte die beiden Gründungsväter von „Lohn und Brot“, die Sozialarbeiter Jürgen Brehl und Frank Dölker. Beide meinten, so eine wie mich könnten sie sich gut im Projekt vorstellen. Ich habe eine Ausbildung als Bürokauffrau und konnte somit einerseits den Bereich in der Projektverwaltung abdecken. Andererseits kannte ich aber auch die Zielgruppe durch die offene Jugendarbeit im Café Panama und durch Streetwork Fulda.
Wie lange hast du zuvor als Bürokauffrau gearbeitet?
Ich war da recht frisch aus der Ausbildung raus. Ich bin in Thüringen aufgewachsen. Meine Zwillingsschwester hatte hier in Fulda an der Hochschule Soziale Arbeit studiert. Und wie das bei Zwillingen ist, bin ich ihr nach meiner Ausbildung gefolgt. Fulda war, wenn man in einem 400-Seelen-Dorf an der Grenze aufgewachsen ist, dann die große Welt. Da musste ich hinterher.
In welchem Betrieb hast du deine Ausbildung gemacht?
In Thüringen habe ich nach dem Realschulabschluss eine überbetriebliche Ausbildung begonnen. Nach der Wende gab es nicht so viele Ausbildungsstellen, und alles war im Umbruch. Ich hatte zwei Praxisteile während meiner Ausbildung. Bei Tegut habe ich den ersten Praxisteil absolviert, danach war ich in der Buchhaltung einer Wohnungsbaugesellschaft. Also konnte ich Erfahrungen in zwei unterschiedlichen Firmen sammeln. Das spiegelt mich auch ein bisschen wider. Ich orientiere mich gar nicht so straight in nur eine Richtung.
Das heißt, es war klar, dass du dir nach deiner Ausbildung einen neuen Arbeitgeber suchen musstest.
So ist es. Ich bin 1997 nach Fulda gezogen und hatte überlegt, ob ich dieses „Büroding“ wirklich will. Ich habe mich ausprobiert, ein Praktikum in der Ergotherapie gemacht und meine Schwester bei ihrer Honorartätigkeit im Café Panama begleitet. Als das Angebot kam, bei der AWO im Projekt „Lohn und Brot“ zu beginnen, fand ich das sehr spannend, weil man die Erfolge der eigenen Arbeit sehen kann. Jungen Leuten Steine aus dem Weg räumen, ihnen einen besseren Weg ebnen, dass sie wieder Mut haben und etwas für ihr Leben mitnehmen. Das hat mich motiviert.
Wie „Lohn und Brot“ arbeitslose Jugendliche fördert
Was war das Ende der 90er, als das Projekt startete, für eine Zeit?
Es gab eine recht hohe Jugendarbeitslosigkeit. Ein Jahr zuvor war der politische Wechsel und die SPD führte die neue Regierung. Sie haben damals ein Programm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Darüber wurden wir in Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit die ersten sechs Jahre auch gefördert. Das Klientel von „Lohn und Brot“ hat sich in all den Jahren danach sehr stark verändert.
Inwiefern?
Begonnen hat „Lohn und Brot“ 1999 vorrangig mit jungen, männlichen Russlanddeutschen, zu denen der Kontakt über die Streetwork-Arbeit bereits bestand. Alkohol- und Drogenprobleme waren eine hohe Hürde und die Arbeit der Sozialpädagog:innen und Anleiter:innen war herausfordernd. Es gab ein hohes Gewalt- und Aggressionspotenzial.
Wie hat sich die Arbeit mit den Jugendlichen seit damals verändert?
Die Welt ist schnelllebiger geworden und die Anforderungen, die heute an junge Leute gestellt werden, haben zugenommen. Sie sind im privaten und beruflichen Bereich massiv überfordert. Heute stehen etwa psychische Probleme, ein fehlender familiärer Hintergrund, Schulden oder Wohnungslosigkeit im Vordergrund. Wir unterstützen mittlerweile kleinschrittiger und langsamer, angepasst an jede:n Einzelne:n.
Wie konkret unterstützt ihr die Jugendlichen?
Die Basis ist eine gute Beziehungsarbeit, um ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Vorrangiges Ziel ist die Stabilisierung und die Alltagsstrukturierung. Teilweise waren die Jugendlichen schon in anderen Maßnahmen und sind frustriert, weil sie sich bei anderen Trägern der Jugendberufshilfe nicht verstanden fühlten oder Sanktionen vom Jobcenter bekamen.
Wir bieten unterschiedliche Arbeitsbereiche an, die Holz- und die Fahrradwerkstatt, den Wildpark Gersfeld, das Forstamt Hofbieber und das AWO Gartenprojekt. Die Teilnehmenden werden individuell unterstützt, der Maßnahmeverlauf und -dauer sind bei jedem:r unterschiedlich. Neben dem praktischen Arbeitsangebot an vier Tagen findet wöchentlich ein Qualifizierungs- oder Aktivitätentag statt.
Was unternehmt ihr an diesen Tagen?
Es gibt verschiedene Qualifzierungseinheiten, beispielsweise zu Themen wie Schulden oder Sucht. Wir besuchen Beratungsstellen oder besichtigen Betriebe. Auch die Präventionsarbeit ist wichtig. Auf die Gruppenarbeit, insbesondere den Bereich der Erlebnis-Pädagogik, legen wir großen Wert. Man will sich ja nicht immer nur im Arbeitskontext begegnen. Da wird gekocht, es gibt kreative Angebote – wir haben zum Beispiel Masken für die Teilnehmer:innen genäht – oder wir fahren Kanu, gehen in die Kletterhalle. Mit Unterstützung des Jobcenters konnten wir auch einen Sportcoach gewinnen, der mit den Teilnehmenden regelmäßig Sport macht. Das alles fehlt jetzt aufgrund der Pandemie, und das wird von den jungen Leuten als Ausgleich sehr vermisst.
Wie die Corona-Pandemie Verenas Arbeit erschwert
Wie hat die Pandemie deine Arbeit beeinflusst?
Zu Beginn war das für mich ein Tanz auf dem Vulkan. Vor einem Jahr gingen die Zahlen durch die Decke, gleichzeitig gab es nur wenige Möglichkeiten, zu testen, und nur wenig Impfstoff stand zur Verfügung. Es ist für uns alle herausfordernd, die jungen Leute einzeln oder in Kleingruppen zu beschäftigen. Durch unsere Holzwerkstatt hatten wir die Möglichkeit, unterschiedliche Arbeitsstationen aufzubauen, zum Beispiel das Fahrrad-Recycling oder Holzarbeiten. Wir hatten bisher zum Glück keinen Corona-Fall. Doch letztendlich ist es eine Frage der Zeit. Jeder Kontakt stellt eine potenzielle Gefahr für uns alle dar.
Fühlst du dich heute in dieser Hinsicht sicherer?
Ja, denn der Großteil ist geimpft, und auch mit den Tests haben wir ein gutes Instrument, um Infektionsketten zu unterbrechen. Was mir in der Vergangenheit auch Sicherheit gegeben hat, ist, dass die Jugendlichen in ihrem kleinen Kreis geblieben sind und im Alltag vorsichtig sind. Auch dass wir während der Arbeit Masken tragen, schützt uns und andere. Es gibt vielfältige Impfangebote, auch von der AWO, über die wir sie informieren. Der ein oder andere hatte vielleicht nur Angst vor dem Pieks und wurde von uns begleitet.
Wie finanziert sich das Projekt?
Derzeit werden wir vom ESF, dem europäischen Sozialfonds, gefördert. Eine Co-Finanzierung besteht über das kommunale Kreisjobcenter Fulda, welches das Projekt regelmäßig neu öffentlich ausschreibt. Wir müssen uns immer wieder darauf bewerben, haben aber als erfahrener Träger in der niedrigschwelligen Beschäftigung und Qualifizierung von arbeitslosen Jugendlichen ein gutes Standing. Das Jobcenter weist uns dann einzelne Teilnehmer:innen zu. Wir haben mit den Projekten „Lohn und Brot“ und „Artemis“ – dem Pendant zu „Lohn und Brot“, das sich an Frauen richtet – 20 Maßnahme-Plätze, und zwei zusätzliche für Jugendliche, die beispielsweise Sozialstunden ableisten können.
Welche Bilanz ziehst du nach den bisherigen 22 Jahren für das Projekt „Lohn und Brot“?
Unsere ehemaligen Teilnehmenden kommen manchmal nach Jahren noch zu uns. Sei es um einfach zu reden, um von ihrem jetzigen Leben und Erfolgen zu berichten oder um nach Unterstützung zu fragen. Natürlich gibt es immer Teilnehmende, die du nicht erreichst, die einfach noch nicht soweit sind, Unterstützung anzunehmen. Aber es gibt eben auch viele Teilnehmende, die wir stabilisieren konnten, und denen wir durch die Vermittlung von Praktika zu einem Einblick ins Berufsleben verhalfen, der vielleicht zum weiteren Besuch der Schule oder dem Beginn einer Ausbildung führte. Ein Erfolg ist aber auch, wenn die jungen Leute gezielt ihre Probleme angehen, sich also etwa um eine Wohnung bemühen, mit der Schuldenregulierung beginnen oder eine Suchttherapie aufnehmen.
Was sich Verena für ihre berufliche Zukunft wünscht
Die Eigenmotivation zu stärken und den Weg als Ziel zu begreifen, stehen also im Fokus.
Genau. Es ist wichtig, den Teilnehmenden wertschätzend und auf Augenhöhe zu begegnen, sie in ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zu stärken und in ihrem Tempo zu begleiten.
Und diese Erfolge der Teilnehmenden motivieren dich im Job.
Ja. Wenn sie den Kontakt zu uns geknüpft und Vertrauen zu uns gefasst haben, kann man etwas bewegen, indem man den jungen Menschen zur Seite steht, damit sie ihr Leben selbst wieder in die Hand nehmen können.
Welche Bedingungen erschweren die Arbeit?
Die Projektfinanzierung ist für die aufwendige „Eins zu Eins“-Betreuung, die häufig notwendig ist, recht gering. Ebenso könnte man immer noch etwas mehr Manpower haben. Die Teilnehmenden haben sich in den Jahren auch so verändert, dass du mehr rausfahren und aufsuchen musst, und es geht viel Zeit für Einzelgespräche drauf. Das geht natürlich bei den sozialpädagogischen Kräften von der Zeit ab. Dann kommt der Aufwand für all die Dokumentationen und Berichte hinzu. Vielleicht sollte man sich manchmal weniger der Bürokratie widmen müssen, um mehr mit den Menschen arbeiten zu können.
Wie gelingt dir eine gute Work-Life-Balance?
Ich bin ehrenamtlich in der L14 zwo aktiv, habe mit Freundinnen den Kleidertauschladen und die Nähbar initiiert, organisiere Kultur, wie das „Genießen unterm Apfelbaum“, bin DJane und lebe mich kreativ aus.
Wie stellst du dir deine berufliche Zukunft vor?
Gestartet bin ich 1999 als Bürokauffrau. Heute unterstütze ich auch im Bereich Anleitung die Teilnehmenden wo ich meine kreativen Erfahrungen mit einfließen lassen kann. Auch wenn jeder Tag eine Herausforderung ist, kann ich mir vorstellen bis zur Rente weiter im Projekt „Lohn und Brot“ zu arbeiten. Da habe ich Lust drauf. Nach 22 Jahren fühle ich mich auch schon wie eine halbe Sozialpädagogin. Das Soziale liegt mir.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.