„Anfangs war es schwer, die deutsche Gesellschaft zu verstehen“
2004 kam sie der Liebe wegen aus der Ukraine nach Deutschland. Im Gespräch erzählt Tatyana Hirsch, heute Familienlotsin der AWO am Aschenberg in Fulda, wie sie es aus eigener Kraft, ohne finanzielle Unterstützung geschafft hat, sich hier eine Existenz aufzubauen. Sie berichtet über ihren beruflichen Neustart, ihre Arbeit bei der AWO und erklärt, welche Rolle die Sprachbarriere bei ihrer Integration gespielt hat.
Frage:
Wir führen dieses Gespräch im Bürgerzentrum am Aschenberg. Aktuell ist es ziemlich ruhig und leer. Wie sah das vor Corona aus?
Tatyana Hirsch:
Auch wenn es hier aktuell ruhig ist, kommen hin und wieder Leute, denn Bedarfe gibt es auch während der Pandemie. Einigen fällt es schwer, sich für einen Corona-Test anzumelden. Nicht alle können gut mit digitalen Medien umgehen. Natürlich schauen wir nach vorne, und es gibt Vorschläge, neue Projekte zu entwickeln. Aktuell sind wir dabei, dafür die notwendigen Gelder zu akquirieren. Während der Ferien hatten wir beispielsweise ein Projekt mit zwölf Kindern und drei Betreuern. Alle wurden davor getestet. Es nennt sich „total digital“ und hatte das Ziel, die Medienkompetenz der Kinder zu stärken, damit sie besser mit dem Homeschooling zurechtkommen.
Inwieweit hat Corona diese Arbeit verändert?
Im ersten Lockdown dachte ich noch, in wenigen Wochen oder Monaten ist die Pandemie wieder vorbei. Später war dann jedoch klar, dass man mit diesen Rahmenbedingungen leben muss. Die Struktur und Arbeitsweise zu verändern, war zwar nicht leicht, ist uns aber gelungen. Ich habe mich persönlich digital weiterentwickelt. Früher musste ich das nicht, heute weiß ich, dass es nicht mehr ohne geht. Unsere Teamtreffen, Sitzungen der Familienlotsen, Netzwerktreffen laufen digital und das ist mittlerweile normal geworden.
Was ist deine Aufgabe bei der AWO?
Ich bin Familienlotsin und sitze als solche normalerweise nicht hier im Büro, sondern versuche im Stadtteil aktiv zu sein. Es gibt immer wieder Anfragen von Familien. Vor einiger Zeit wandten sich Mütter an mich, deren Kinder aufgrund von Corona psychische Probleme haben und deshalb wohl das Abitur nicht schaffen werden. In solchen Situationen brauchen sie Unterstützung.
Was schlägst du Familien in einem solchen Fall vor?
Für die russischsprachigen Eltern ist es natürlich eine große Katastrophe. Ihnen war es wichtig, dass die Kinder das Abitur schaffen. Sie sind für ihre Kinder nach Deutschland gekommen. Die Mädchen stehen nun vor der Wahl, eine Ausbildung oder ein Fachabitur zu machen oder ein Schuljahr zu wiederholen. Die Eltern brauchen in diesem Fall einen Gesprächspartner, der ihnen vermittelt, dass es nicht schlimm ist und dass die Wege, um bestimmte Ziele im Leben zu erreichen, sehr unterschiedlich sein können.
Was gehört noch zu deinen Aufgaben als Familienlotsin?
Zum einen die Fallarbeit, das heißt, ich stehe in Kontakt mit Akteuren im Stadtteil, wie Kindergärten und Schulen. Wenn eine Erzieherin oder Lehrerin merkt, dass ein Kind Schwierigkeiten hat, ihre Bemühungen aber daran nichts ändern, kann es sein, dass das Problem in der Familie liegt. Dann sind gemeinsame Termine mit der Familie eine Möglichkeit, dafür Lösungen zu finden. Meine Aufgabe ist es dann, zu schauen, wie wir die Familie noch unterstützen können, vorausgesetzt sie möchte das. Familien kommen aber auch selbst auf mich zu. Denn Menschen, die neu im Stadtteil sind, brauchen oft Beratung, sind vielleicht gerade auf der Suche nach einem Kindergartenplatz. Daneben kümmere ich mich um die Stadtteil- und Netzwerkarbeit.
Was motiviert dich, den Menschen zu helfen?
Wir helfen ihnen nicht, wir unterstützen sie, eigene Wege zu finden. Natürlich kann das auch frustrierend sein. Man bemüht sich, doch nicht immer setzen die Leute Vorschläge um. Es gibt viele Fälle, wo ich Frauen Ideen und Vorschläge gemacht habe, in Deutschland Fuß zu fassen. Sie waren zwar mit allem einverstanden, haben es jedoch nicht umgesetzt. Dann kommen sie aber nach drei Jahren und sagen, jetzt bin ich doch bereit dazu. Denn jeder hat sein eigenes Tempo.
Es gibt auch Fälle, in denen Kinder nicht an Aktivitäten teilnehmen, eine Ferienwoche abbrechen, weil sie es nicht schaffen, pünktlich zu sein. Dann siehst du vielleicht nach zwei Jahren, dass die Pünktlichkeit plötzlich kein Problem mehr ist und das Kind an der gesamten Ferienwoche teilnehmen konnte. Es ist motivierend, wenn du Fortschritte der Familien erkennst.
Wie lange unterstützt du Menschen auf dem Aschenberg bereits?
Seit zehn Jahren. Die Lebenswelt der Menschen hier, ob mit oder ohne Migrationshintergrund kenne ich gut. Daher kann ich einschätzen, was die Familien bereit sind, selbst zu tun. Unser Ziel ist es nicht für, sondern mit der Familie etwas zu tun, sie dazu befähigen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Wie Tatyana Teil der AWO wurde
Wie bist du damals zur AWO gekommen?
Ich stamme aus der Ukraine, wo ich meinen Mann kennengelernt habe und kam mit 35 aus Liebe zu ihm nach Deutschland. Mein Diplom als Lehrerin wurde hier nur teilweise anerkannt. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, ein neues Studium aufzunehmen. Ich hatte wegen der teilweisen Anerkennung aber keinen Anspruch auf Bafög. Das hätte ich nur bekommen können, wenn ich im Bereich Grundschullehramt weiterstudiert hätte. Doch das war nicht möglich.
Wieso nicht?
Ein deutscher Gymnasiallehrer hat mich gefragt, ob ich hier als Grundschullehrerin arbeiten möchte. Das wollte ich, weil ich dachte, dass ich bereits gut Deutsch spreche. Er sagte mir dann, dass ich grammatikalisch perfektes Deutsch sprechen müsse, um dieses Fach auch in der Grundschule zu unterrichten. Ansonsten fände ich nie einen Arbeitsplatz. Deshalb habe ich mich für ein Studium in Sozialer Arbeit entschieden, musste dann aber parallel arbeiten.
Und wo hast du gearbeitet?
Ich habe mich zunächst im Projekt Stadtteilmütter der AWO engagiert, dann habe ich hier Musik mit Kindern angeboten und parallel in der Sturmiusschule in der Betreuung gearbeitet. Als ich mit dem Studium fertig war, hatte ich deshalb bereits viele verschiedene Dinge bei der AWO gemacht. So bin ich bei der AWO geblieben. Hätte ich damals nicht arbeiten müssen, hätte ich die AWO vielleicht gar nicht kennengelernt.
Wie hast du die Arbeit und das Studium überhaupt gemanagt bekommen?
Anfangs war es schwer, die Gesellschaft zu verstehen. Als ich im Jobcenter gesagt habe, ich möchte studieren, wurde mir gesagt, dass ich dafür kein Geld bekomme. Ich konnte das erst gar nicht glauben, weil ich dachte, es gibt in Deutschland für jeden Fall irgendeine finanzielle Unterstützung. Doch wegen 300, 400 Euro im Monat wollte ich mich nicht daran hindern lassen, mein Leben nach meinen Wünschen zu gestalten. Nachdem ich ein Jahr gearbeitet hatte, habe ich dann auch verstanden, dass das, was man an der Hochschule lernt, nicht reicht, um auch in der Praxis gut zu sein. Insbesondere Menschen wie ich, die aus einem anderen Land kommen, brauchen auch Erfahrungen hierzulande.
Du warst alleinerziehend, hast studiert und musstest arbeiten. Jede Aufgabe für sich genommen wäre ein Fulltime-Job. Wie hat das funktioniert?
Meine große Tochter war damals bereits 14 und sehr selbstständig. Meine kleine Tochter war damals von 9 bis 18 Uhr im Kindergarten. Der Wunsch etwas zu erreichen, hat mir die Kraft gegeben. Wenn man aus einem anderen Land kommt, muss man etwas leisten. So habe ich den Bachelor geschafft, und jetzt bin ich gerade dabei berufsbegleitend meinen Master zu machen. 2022 will ich das geschafft haben.
Warum die Sprache für Migranten oft ein Problem ist
Gab es dennoch Hürden auf deinem Weg?
Das Studium war nicht schwierig, weil ich in meinem Heimatland bereits studiert hatte. Die Sprache war das Problem. Auch die Arbeit mit dem Computer war für mich eine Herausforderung. In der Ukraine hatte ich keinen. An der Hochschule gab es damals einen Computerkurs für Anfänger. Im Gegensatz zu den anderen Kursteilnehmern wusste ich gar nicht, wie ich den Computer überhaupt einschalte.
Inwieweit hat dich die Sprache vor Herausforderungen gestellt?
Du kommst an die Arbeit, bist unsicher. Wenn du mit Menschen arbeiten willst, sind geringe Sprachkenntnisse schon ein Problem. Ich habe damals gemerkt, dass ich da etwas tun muss. Die Sprache wird besser, wenn man viel liest. Wenn man das nicht tut oder sich beispielsweise nur auf Krimis beschränkt, bleibt die Sprachentwicklung stehen. Natürlich ist es nicht immer spannend Fachliteratur in seiner Freizeit zu lesen. Ich habe aber verstanden, dass man das machen muss, um weiterzukommen.
Was rätst du Menschen, die sich mit der Sprache schwer tun?
Sprache lernt man, indem man spricht. Das ist schwierig. Meine große Tochter redet beispielsweise nie Deutsch mit mir, sondern nur Russisch. Sie sagt, sie kann nicht hören, wie ich Deutsch rede. Aber mit meiner kleinen Tochter rede ich Deutsch. Man muss den Mut haben, zu sprechen und verstehen, dass die Sprachkenntnisse nicht vom Himmel fallen. Ich dachte auch als ich nach Deutschland kam, dass die Sprache kein Problem sein wird. Mein Ex-Mann meinte, schau doch Fernsehen.
Hat das geklappt?
Nein, ich habe das ganze Jahr deutsches Fernsehen geschaut, die Sprache dadurch aber nicht gelernt. Später kam meine Mutter und stellte fest, dass ich überhaupt kein Deutsch konnte. Sie meinte, das geht nicht. Ich könne nicht ohne Sprachkenntnisse hier leben. Dann habe ich gemerkt, ich muss etwas tun. Unsere Kinder, egal ob du arbeitest oder nicht, wachsen hier auf. Sie haben mehr deutsche Freunde, irgendwann nicht-russischsprachige Partner oder sprechen selbst kein gutes Russisch mehr. Auch deshalb muss man die Sprache lernen.
Hattest du damals, ähnlich wie deine Mutter, auch das Gefühl, es wäre besser zurück in die Ukraine zu gehen?
So habe ich nie gefühlt. Ich habe nach Wegen gesucht, zu bleiben. Viele Migranten erinnern sich vielleicht an die schönen Dinge aus ihrer Heimat von früher. Doch sie hat sich im Laufe der Jahre auch verändert.
Hältst du Sprache für die größte Hürde bei der Integration?
Viele haben das Gefühl, dass alles, was sie in ihrer Heimat erreicht und erlebt haben, hier plötzlich nichts mehr Wert ist. Die Fähigkeit zu sagen, ich muss nochmal anfangen, mich erneut beweisen und weiterentwickeln und die Kompetenzen erwerben, die hier gebraucht werden, ist wichtig. Aber es ist oft nicht einfach. Viele stehen sich selbst im Weg, indem sie sich beispielsweise nur trauen einen Satz zu sprechen, wenn sie genau wissen, dass dieser grammatikalisch korrekt ist. Dieser Perfektionismus bremst den Spracherwerb aus. Menschen, die sich bei der AWO engagieren, kennen dieses Gefühl jedoch oft nicht. Denn die AWO stellt nicht die Defizite in den Vordergrund, sondern sucht nach den Stärken der jeweiligen Person. Das motiviert sie, etwas zu machen.
Wieso ist die Sprache überhaupt so problematisch?
Viele haben die Erwartung, nach Deutschland zu kommen und die Sprache sofort zu lernen, weil man unter Muttersprachlern ist. Das ist oft nicht der Fall. Man sucht gerade anfangs immer nach den Menschen, die die eigene Muttersprache sprechen. Das ist auch legitim, weil man Informationen darüber braucht, wie das Leben hier funktioniert. Man sucht natürlich auch Anschluss in der Gruppe. Dennoch muss man sich auf die deutsche Gesellschaft zu bewegen. Die AWO hat viele Projekte, die Menschen dabei helfen, auch außerhalb ihres Freundeskreises Anschluss zu finden. Ich selbst habe bei der AWO immer wieder Begegnungsmöglichkeiten gesucht.
Wie sich die Integration seit 2004 verändert hat
Das heißt, du hast auf deinem Weg seitens der AWO viel Unterstützung bekommen.
Ja, die bekomme ich bis jetzt. Bei der AWO geht es immer darum, Lösungen für Probleme zu suchen. Das ist unser Leitbild. Meine Vorgesetzten suchen immer nach Mitteln und Wegen, Ideen und Vorschläge auch umsetzen zu können. So hat man die Möglichkeit, sich mit seinen eigenen Stärken immer wieder einzubringen. Auch die Flexibilität, als Mitarbeiter Entscheidungen zu treffen und selbst Verantwortung zu übernehmen, motiviert. Das stärkt das Selbstbewusstsein.
Inwieweit haben dir deine eigenen Erfahrungen dabei geholfen, Menschen bei der Integration zu unterstützen?
Ich bin sehr direkt und sage den Menschen auch, du musst jetzt das und das machen. Ich weiß, dass das funktionieren kann. Ich schaue mir Unterstützungsangebote in der Breite an und kann einschätzen, was zur jeweiligen Person und Situation passen könnte.
Ist es, seit du damals nach Deutschland gekommen bist, leichter geworden, sich zu integrieren?
Wenn jemand heute nach Deutschland kommt, gibt es bessere Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung. Die Gesellschaft ist generell offener geworden. Migranten werden ganz anders angenommen als vor 20 Jahren. Rein subjektiv würde ich auch meinen, dass heute mehr Kinder mit Migrationshintergrund die Realschule oder das Gymnasium besuchen. Als meine Tochter nach Deutschland kam, war sie etwa 13 Jahre alt und die einzige Migrantin am Gymnasium. Viele haben gesagt, ohne Sprachkenntnisse schafft sie das nicht. Aber sie hat es geschafft. Meine kleine Tochter ist heute auf dem Gymnasium, mittlerweile hat fast die Hälfte der Klasse einen Migrationshintergrund. Früher haben Lehrer den Eltern geraten, ihr Kind lieber nicht auf das Gymnasium zu schicken, weil sie das Kind nicht unterstützen könnten. Heutzutage ist das anders.
Was wäre deiner Meinung nach politisch nötig, um die Integration weiter zu verbessern?
Ich denke, es braucht mehr Ganztagsschulen, damit Kinder mit Migrationshintergrund den ganzen Tag deutsch sprechen können. Sobald sie nach Hause kommen, wird in der Regel die Muttersprache gesprochen. Es gibt viele Fälle, in denen die Kinder hier geboren sind, aber aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht eingeschult werden können, weil sie nur bis 12 Uhr im Kindergarten und anschließend den restlichen Tag zu Hause waren. Am Ende fehlen ihnen so die nötigen Deutschkenntnisse. Daher wären mehr Ganztagsschulen eine Möglichkeit, Kindern aus ausländischen Familien mehr Chancen zu geben.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.