“Eineinhalb Jahre lang habe ich nichts anderes getan als Deutsch zu lernen“
20 Jahre lang unterrichtete er Kinder in seinem Heimatland Mathematik bis ihn der Krieg zur Flucht trieb. 2016 gelangte Kariem Osman schließlich nach Deutschland und arbeitet jetzt im Patenschafts- und Väterprojekt der AWO. Heute sagt er mit Stolz: „Ich bin integriert.“ Im Interview spricht Kariem über den Abschied von seiner Heimat, seinen Neustart in Deutschland und seine große Leidenschaft.
Frage:
Als Geflüchteter bist du 2016 aus Syrien nach Deutschland gekommen. Mit dem Boot hast du das Mittelmeer überquert und dich dann über den Balkan auf den Weg gemacht. Wie hast du die Flucht erlebt?
Kariem Osman:
Ich habe mich damals mit meiner Frau und meinen zwei Kindern auf den Weg gemacht. Es war unglaublich schwer und zu keiner Zeit sicher, Deutschland auch wirklich zu erreichen. Ich bin fünf Jahre im Krieg geblieben, bis ich meine Heimat, das Kurdische Gebiet in Syrien, verlassen habe, denn ich habe darauf gewartet, dass er endet. Doch der Krieg tobt bis heute. Meine Frau und ich haben irgendwann realisiert, dass es nur noch schlimmer wird. Es herrscht Unsicherheit, Kriminalität. Es geht nicht nur um die Raketen und andere Waffen. Manchmal hat man kein Wasser, keinen Strom.
Wie geht es dir heute, wenn du siehst, dass in Syrien immer noch Krieg herrscht?
Was in Syrien passiert, kann man nicht beschreiben. Es gibt viele Seiten, die sich bekriegen. Die meisten interessieren sich nicht für die einfachen Leute, die jeden Tag für den Krieg bezahlen. Ich hoffe, dass bald Frieden einkehrt. Leider können wir derzeit nicht viel im Land verändern. Denn nicht nur Syrer entscheiden, was passiert, sondern andere mächtige Länder.
Was Kariem an Deutschland faszinierte
Wie schwer fiel dir damals der Abschied?
In Syrien habe ich als Mathelehrer und meine Frau als Lehrerin für Biologie gearbeitet. Es war nicht wie die Vorbereitung auf einen Urlaub. Man hat seine Koffer nicht in Ruhe gepackt und sich dann von Freunden und Verwandten verabschiedet. Es kam plötzlich. Daher konnte ich mich weder von der Familie noch von meinen Kolleg:innen und Schüler:innen verabschieden. Doch es war die richtige Entscheidung. Das bestätigen uns auch unsere ehemaligen Kolleg:innen.
Vermisst du deine Heimat?
Den Krieg und die Regierung vermisse ich nicht, aber Freunde und Bekannte. Obwohl viele das Land verlassen haben oder gestorben sind. Meine Mutter, meine Geschwister sind dort. Natürlich vermisse ich sie. Aber ich habe auch hier neue Freunde und Bekannte gefunden, mit denen ich zusammen schöne Momente verbringe. Deshalb fühle ich mich hier wohl und nicht fremd.
Wie hast du es empfunden, in Deutschland, einem für dich fremden Land, anzukommen?
Wenn man seine Heimat verlassen muss, ist das schwieriger als es freiwillig zu tun. Natürlich wollte ich Deutschland als Tourist besuchen und nicht als Geflüchteter ankommen.
Aber ich bin aufgeschlossen. Deshalb war der Kulturschock für mich nicht so groß. Von Anfang an wollte ich mich integrieren und im sozialen Bereich arbeiten. Daher musste ich wissen, wie das Leben in Deutschland funktioniert, wie man eine Arbeit finden und soziale Kontakte aufbauen kann. Das habe ich relativ schnell geschafft. Andere haben diesen Schock und brauchen daher Zeit.
Was war damals für dich neu, vielleicht auch merkwürdig?
Mich hat die europäische Demokratie immer fasziniert. Ich wollte lernen, wie die Deutschen ihr Land nach dem zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben, was Demokratie bedeutet. Ich habe auch für Syrien immer geglaubt, dass Demokratie die Lösung ist. In einer Demokratie kann jede:r leben und seine Meinung, seine Ansichten zum Ausdruck bringen. In anderen Systemen genießt meist nur eine kleine Gruppe von Menschen Freiheit. Syrien ist ein Land mit vielen Sprachen, vielen Kulturen und Religionen. Daher kann die Lösung nur Demokratie sein.
Wie schwer war es für dich, in Deutschland anzukommen?
Mir war klar, dass ich die Sprache lernen musste. Eineinhalb Jahre lange habe ich so gut wie nichts anderes getan als Deutsch zu lernen. Leider gab es in unserer Geflüchtetenunterkunft keinen Deutschkurs, weshalb ich versucht habe, mir dir Sprache selbst beizubringen. Ich dachte, ich lerne Deutsch wie Englisch, also ohne den passenden Artikel. So habe ich 800 Wörter gelernt, bis mir jemand gesagt hat, dass es im Deutschen drei Artikel gibt. Ich musste also wieder von vorn anfangen. Die Sprache ist der Grundstein für die Arbeit und soziale Kontakte. Es ist meine Aufgabe, mir die Sprache anzueignen, um mich ausdrücken zu können. Wenn ich nicht sprechen kann, wie soll dann mein Gegenüber wissen, mit wem sie oder er es zu tun hat? Dazu könnte ich dir auch noch eine lustige Geschichte erzählen.
Welche?
Anfangs in Deutschland, als wir mit dem Bus zur Unterkunft gebracht wurden, habe ich versucht, die Namen auf den Straßenschildern zu lesen. Und ich habe mich gewundert, warum so viele Dörfer „Ausfahrt“ heißen. (lacht) Später habe ich verstanden, was es bedeutet.
Wie Yoga Kariem bei der Integration half
Heute arbeitest du für die AWO in Fulda. Du betreust das Patenschafts- und das Väterprojekt. Wie hast du zur AWO gefunden?
Ich lebte damals in einem kleinen Dorf und kannte kaum jemanden. Ich wollte deshalb Kontakte knüpfen zu Organisationen, Einrichtungen und Behörden, um die Sprache zu verbessern und neue Menschen kennenzulernen. So bin ich auf ein interkulturelles Fest im „Welcome In! – Wohnzimmer“ in Fulda aufmerksam geworden. Dort traf ich Sina Ilchmann, die damals unter anderem das Projekt „ReVo – Refugees go Volunteers“ (ReVo) ins Leben gerufen hat und für das Projekt „Chancen-Patenschaften“ zuständig war.
Sie erklärte mir, dass sich die Menschen im Patenschaftsprojekt gegenseitig unterstützen. Ich habe dann einen Termin mit ihr vereinbart, um zu erfahren, wie ich mich daran beteiligen könnte. Damals sprachen wir auch über meine Interessen und ich erwähnte, dass ich gern Yoga mache. Sina hatte dann die Idee, im Rahmen des ReVo-Projekts eine ehrenamtliche Yoga-Gruppe zu gründen, die ich noch heute leite. Die AWO hat mich im Vorfeld bei der Werbung unterstützt, Flyer gemacht und einen Raum zur Verfügung gestellt.
Seit wann leitest du die Yoga-Gruppe?
Seit 2018 biete ich Yoga an. Momentan findet der Kurs einmal pro Woche, immer sonntags statt. Bei gutem Wetter im Schlosspark, bei schlechtem in der L14zwo in der Lindenstraße 2.
Inwieweit hat dir die Gruppe bei der Integration geholfen?
Ich bin Yogi. Durch die Gruppe habe ich andere Yogi kennengelernt. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, dadurch habe ich neue Freunde gefunden. Jeden Sommer feiern wir den Geburtstag unserer Gruppe. Und Yoga passt zur westlichen Welt, in der es um Leistung und Schnelligkeit geht, denn es ist das genaue Gegenteil. Ruhe, sich Zeit nehmen. So schafft man eine Balance.
Wie bist du vom Yoga zum Patenschaftsprojekt gekommen?
Ungefähr acht Monate nach Beginn der Yoga-Gruppe kam Sina auf mich zu und meinte, dass ich gut ins Team passen würde. Sie fragte mich, ob ich mich im Patenschaftsprojekt engagieren möchte. Ich unterstütze Menschen gern, das ist Teil meiner Persönlichkeit. So hatte ich die Chance, das auch professionell zu tun.
Um was solltest du dich im Patenschaftsprojekt kümmern?
Im Patenschaftsprojekt geht es darum, Kontakte und Austausch zwischen Menschen insbesondere aus unterschiedlichen Ländern zu ermöglichen. Dadurch kann gesellschaftliche Integration gelingen und Zusammenhalt gefördert werden. Viele Menschen kommen unter anderem aus den arabischen Ländern. Ich spreche Deutsch, Kurdisch, Arabisch und Englisch. Dadurch konnten wir mehr Menschen erreichen, mehr Patenschaften schließen. Das war der Kern unserer Aufgabe und ist es noch heute.
Das andere Projekt, in dem du arbeitest, ist das Väterprojekt.
Genau, dabei geht es vor allem darum, Väter zu erreichen und mit ihnen über ihren Familienalltag zu sprechen, für bestimmte Themen zu sensibilisieren und sie zu unterstützen. Da geht es oft um Themen wie Kindererziehung, Job- und Wohnungssuche. Auch wenn ein Vater eine konkrete Frage hat und nicht weiß, wer der richtige Ansprechpartner ist, kann er uns fragen. Wir helfen den Vätern beim Schreiben von Bewerbungen, dem Ausfüllen von Formularen. Wir teilen regelmäßig Stellenanzeigen, die für die Väter interessant sein könnten. Wir stellen oft den Kontakt zu den Firmen her. Aber vor allem auch Themen wie Demokratie und Integration sind Teil unserer Arbeit.
Was hast du vor den Projekten in Deutschland gemacht, hattest du einen anderen Job?
In meiner Flüchtlingsunterkunft konnten viele Leute weder Deutsch noch Englisch. In den ersten zwei bis drei Monaten in Deutschland habe ich sie deshalb als Übersetzter unterstützt. Das war allerdings ehrenamtlich. Heute bin ich froh, selbst einen Job in Deutschland gefunden zu haben. Ich habe nicht auf meine Sachbearbeiterin im Job-Center gewartet. Sie war nett und versuchte, mich zu unterstützen. Ihre damaligen Vorstellungen waren, dass ich zunächst mehr Deutsch lerne und anschließend eine neue Ausbildung mache. Dass ich selbst einen Job gefunden habe, hat sie gefreut.
Warum Kariem heute nicht mehr Mathematik unterrichtet
In Syrien hast du Mathe unterrichtet. Wie viele Jahre warst du dort Lehrer?
In Syrien habe ich 20 Jahre lang als Mathelehrer gearbeitet. Ich habe viele Generationen von der siebten bis zur neunten Klasse in einer staatlichen Schule unterrichtet. Nach der Schule habe ich auch in Nachhilfeinstituten gearbeitet und Privatstunden gegeben. Ich habe also täglich stundenlang Mathe unterrichtet. Das hat mir immer viel Freude gemacht.
Vermisst du das?
Natürlich. Aber auch bei der AWO konnte ich Schüler:innen in der Hausaufgabenbetreuung helfen. Bevor ich bei der AWO anfing, habe ich auch in der Cuno-Raabe-Schule und der Domschule eine Hausaufgabenbetreuung angeboten und als ehrenamtlicher Pate Kinder beim Lernen unterstützt.
Wäre es auch möglich gewesen, in Deutschland als Lehrer zu arbeiten?
Am Anfang wollte ich das. Aber meine Zeugnisse wurden leider nicht anerkannt. Dennoch habe ich mich bei vielen Schulen beworben. Geklappt hat es nicht.
Wie hat sich dein Leben seit 2016 als du in Deutschland ankamst verändert?
Heute arbeite ich und bin integriert. Ich bin zufrieden, wenn ich zurückblicke und sehe was wir als Familie geleistet haben. Dank meiner Frau können unsere beiden Söhne das Gymnasium besuchen. Meine Frau und ich haben uns viel auf unsere Kinder konzentriert und Zeit und Mühe investiert.
Welchen Tipp gibst du anderen Migrant:innen?
Wer nach Deutschland kommt, sollte eine Vision, also Ziele haben. Schritt Nummer eins ist die Sprache, denn sie ist der Schlüssel zur Gesellschaft. Wichtig ist auch, sich beim Lernen nie mit anderen zu vergleichen, sondern nur mit sich selbst. So sieht man, welche Fortschritte man im Laufe der Zeit gemacht hat. Soziale Kontakte sind auch wichtig, denn dadurch entsteht die Möglichkeit einen Job zu finden.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.