„Das Soziale hat schon lange in mir gesteckt“
Ihr Lebenslauf verlief schnurgerade: Berufsfachschule Ernährung und Hauswirtschaft, dann die FOS Ernährung und Hauswirtschaft, später das Studium der Ökotrophologie und anschließend ein Job als Honorarkraft für Koch-Workshops. Wirklich gebrannt hat Linda-Kalbmüller für diesen Weg aber nicht. Deshalb orientierte sie sich mit 37 Jahren um, studierte Soziale Arbeit und leitet heute für die AWO die Gemeinwesenarbeit in ihrer Heimatstadt Tann. Wie in ihr die Entscheidung gereift ist, den späten beruflichen Neustart zu wagen, und wie ihr Arbeitsalltag heute aussieht, verrät sie im Interview.
Frage:
Du bist in Tann in der Gemeinwesenarbeit tätig. Viele können sich darunter wahrscheinlich nur wenig vorstellen. Wie würdest du Gemeinwesenarbeit beschreiben?
Linda Kalb-Müller:
Im Prinzip geht es darum, nicht nur mit einzelnen Menschen zu arbeiten, sondern mit einer Stadt- oder Dorfgemeinschaft, mit einem Quartier. Und auch die anderen in Lösungen einzubeziehen, wenn Menschen mit Problemen kommen. Es geht auch um Geselligkeit und Miteinander. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: Um ein Kind großzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf. Man greift also auf die Ressourcen aus der Gemeinschaft zurück.
Kannst du das anhand eines Beispiels erklären?
Wir hatten in Tann ein Sprachcafé. Geflüchtete Frauen, die wegen der Betreuung ihrer kleinen Kinder zu keinem Sprachkurs nach Fulda kommen konnten, lernten Deutsch von Ehrenamtlichen. So sind auch Kontakte entstanden. Sie sind beispielsweise auch mit ihnen zum Arzt gegangen oder in die Apotheke. Sie unterstützten die Frauen sogar bei der Wohnungssuche oder halfen bei der Vermittlung von Jobs an die Männer, die zuerst berufstätig wurden. Und umgekehrt hat es den Ehrenamtlichen sehr viel Freude bereitet, zu helfen. Es waren meistens ältere Damen, deren Kinder und Enkelkinder ganz woanders in Deutschland leben, und die aus dem Ehrenamt sehr viel für sich persönlich an Beziehung, an Kontakt rausgezogen haben.
Ihr kümmert euch in Tann also um Geflüchtete und Migranten?
Mit den Geflüchteten sind wir gestartet, weil es in Tann zwei Unterkünfte gab. Das war auch der Grund, warum der Landkreis gesagt hat, wir brauchen Gemeinwesenarbeit im ländlichen Raum. 2016 haben wir mit drei Standorten begonnen. Im Januar 2017 bin ich dann nach Tann gekommen. Da haben wir das Sprachcafé und niedrigschwellige Beratung für Geflüchtete angeboten. Später haben wir auch das Familienzentrum beantragt. Für die Tanner Bevölkerung war das ein bisschen schwierig.
Wieso?
Für die Menschen war klar: Die AWO macht was mit Geflüchteten, die macht was mit Migranten. Das ist teilweise jetzt noch in den Köpfen drin, aber es löst sich nach und nach auf. In den letzten Sommerferien war es so, dass am Ferienprogramm je zur Hälfte geflüchtete und einheimische Kinder teilnahmen. Es geht auch darum, dass sich die Menschen nicht mehr als Geflüchtete fühlen wollen, sondern als Bewohner von Tann.
Wie ist es euch gelungen, diese Barriere zu überwinden?
Wir sind auf die Leute zugegangen. Und obwohl wir sehr viel interkulturelle Dinge machen, haben wir das ein bisschen zurückgestellt, um nicht den Eindruck zu erwecken, nur mit Geflüchteten zu arbeiten.
Wo liegt der Schwerpunkt deiner Arbeit?
Ich bin in Tann Standortleitung und Teamleitung von Hünfeld und Gersfeld. Es geht darum, den besonderen Herausforderungen im ländlichen Raum zu begegnen und bei verschiedenen Aktionen zu kooperieren. Nicht jeder muss das Rad neu erfinden. Beim Tag der Nachbarn haben wir uns beispielsweise abgestimmt und gegenseitig Ideen gegeben, auch wenn ihn jeder Standort etwas anders umsetzt. Bei uns können sich die Menschen etwa Pflanz- und Bastelsets abholen, die dann weiterverschenkt werden.
Was die Gemeinwesenarbeit auf dem Land erschwert
Und welche Aufgaben hast du vor Ort in Tann?
Man muss vom Nagel in die Wand klopfen bis zur Verhandlung mit dem Bürgermeister über die Kofinanzierung alles abdecken. Im Moment biete ich Sprechstunden an. Dort können die Leute erstmal mit allem kommen, und ich schaue, ob ich ihnen weiterhelfen oder sie an die Migrationsberatung oder Beratungsstellen in Fulda verweisen kann. Wir haben ein Online-Sprachcafé, wo wir mit einigen Frauen in Kontakt sind. Daneben koordiniere ich die Ehrenamtsarbeit, die im Moment aber gering ist. Wenn Stadtfeste sind, schaue ich, dass wir Präsenz zeigen, kümmere mich also um die Öffentlichkeitsarbeit. Es gibt verschiedene Frühstücke und Spielplatztreffs. In der jetzigen Corona-Zeit haben wir einen Bücher- und Spielverleih, um die Menschen auch mal wieder zu sehen. Es geht darum, Begegnung zu gestalten.
Was für einen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf deine Arbeit?
Es ist schwierig Begegnungszentren ohne Begegnung zu leiten. Wir haben zwar versucht, Online-Angebote zu machen, merken aber, dass wir nur Leute erreichen, die online relativ fit sind. Wir haben auch ein digitales Café eingerichtet, wo sich die Menschen zeigen lassen, wie sie zum Beispiel die Zoom-App installieren. Für manche ist das aber kein Ersatz. Vor Weihnachten und Ostern sind wir deshalb an die Haustüren gegangen, haben eine Tüte Plätzchen oder ein Osterei und ein bisschen was Süßes vorbeigebracht und uns eine Weile mit den Menschen unterhalten.
Gibt es etwas, das die Gemeinwesenarbeit für dich neben Corona zusätzlich erschwert?
Die Fahrtzeit. Ich wohne in Fulda und arbeite in Tann. Wenn ich hinfahre, und die Menschen rennen mir die Bude ein, bin ich glücklich. Aber manchmal fährt man auch hin, und es ist nichts. Was ich mir für jeden Standort wünschen würde ist, dass dort auch Menschen arbeiten, die zumindest in der Nähe wohnen. Denn man bekommt viele Dinge erst mit, wenn man auch in einem Ort lebt. Nicht die offiziellen Nachrichten, sondern Dinge zwischen Tür und Angel. Das macht auch die Netzwerkarbeit aus. Es ist schwierig, Fachkräfte dort hinzubekommen. Ein Beispiel: Es sind neue Frauen nach Tann gekommen, aus Rumänien, Bulgarien, die gern einen Deutschkurs machen wollen. Aber ich finde niemanden, der für zwei Stunden nach Tann fährt. Du hast hin und zurück 1,5 Stunden Fahrzeit.
Du stammst aus Tann. Was verbindest du mit der Stadt?
Kindheitserinnerungen. Ich war mehr als 20 Jahre lang nicht mehr dort, zwar noch in der Nähe, aber mein Lebensmittelpunkt hat sich verändert. Es war dann interessant, dass man noch viele Gesichter kennt und leicht mit den Leuten ins Gespräch kommt. Denn die AWO ist in Tann, allgemein im ländlichen Raum, weniger bekannt als in der Stadt. Wenn dann ein bekanntes Gesicht da ist, fällt es oft leichter, etwas Gemeinschaftliches zu machen.
Wie hast du es empfunden, in deiner alten Heimat beruflich tätig zu sein?
Es waren gemischte Gefühle. Auf der einen Seite das Bekannte, Vertraute, wo man doch schnell wieder ansetzen kann. Und dann auch Dinge, wo ich mir denke, genau deswegen bin ich weggegangen. Die Ewiggestrigen, die immer alles mies machen, was neu ist. Du hast eben im ländlichen Raum nicht die Ausweichmöglichkeiten wie in der Stadt. Je größter die Stadt, desto eher findest du die Gemeinschaft, die zu dir passt. Und nichtsdestotrotz gibt es auf dem Land auch die Menschen, die kreative und verrückte Ideen haben. Die zu finden und mit ihnen zusammenzuarbeiten, macht dann richtig Spaß.
Die Leute zu finden, mit denen es Spaß macht, eine Aktion zu starten, motiviert dich also an deiner Arbeit.
Ja, auf jeden Fall, aber nicht nur das. Vor den letzten Ferienspielen haben wir lang hin und her überlegt, ob wir was machen können. Wir waren dann in Kleingruppen draußen mit Maske, sind ins Testzentrum gegangen, haben also alles getan, um die Aktion abzusichern. Man hat gemerkt, wie ausgehungert die Kinder nach Kontakt waren. Das sind Momente, in denen man merkt, es ist gut, so eine Arbeit zu machen.
Was hilft dir in schwierigen Situationen, die Motivation nicht zu verlieren?
Manchmal habe ich Tage, an denen ich denke, ich habe kein Gehalt, sondern Schmerzensgeld bekommen (lacht). Ein bisschen Galgenhumor. Zwar zu sagen, der heutige Tag war Horror, aber zu wissen, der nächste wird besser.
Wie findest du an solchen Tagen einen Ausgleich zur Arbeit?
Wandern, Fahrradfahren, Spazierengehen. Also sehr viel in der Natur sein. Ich würde auch gern mal wieder tanzen gehen oder Live-Musik hören. Das fehlt mir gerade sehr.
Wieso Linda Kalb-Müller den beruflichen Neustart wagte
Erinnerst du dich noch, wie du zur AWO gekommen bist?
Ich habe nochmal relativ spät studiert. Mein erstes Studium war Ökotrophologie, von 1993 bis 2002. In dieser Zeit habe ich meine drei Kinder bekommen. Über Koch-Workshops bin ich dann in einem Kinder- und Jugendtreff in die pädagogische Arbeit eingestiegen, habe aber gemerkt, nur als Honorarkraft zu arbeiten, ist nicht die Super-Perspektive und deshalb von 2010 bis 2013 Soziale Arbeit studiert. Während des Studiums habe ich am Aschenberg bei der AWO mein Pflichtpraktikum gemacht. Mein Anerkennungsjahr habe ich dann beim Landkreis Fulda gemacht, weil mir die AWO keine Zusage geben konnte. Allerdings war die Übernahme unsicher.
Also bist du im Anschluss wieder zurück zur AWO?
Ja, darüber war ich auch froh, weil ich gute Erfahrungen mit der AWO gemacht habe. Trotzdem war es gut, mal etwas anderes kennenzulernen und in einer Behörde zu arbeiten. Insgesamt ist die Arbeit dort sehr viel eingeschränkter als bei einem freien Träger. Die Kreativität und den Freiraum, den ich hier habe, weiß ich deshalb zu schätzen. Bei der AWO habe ich dann 2015 zunächst als Familienlotsin angefangen.
Ich stelle mir das finanziell schwierig vor, mit drei Kindern Vollzeit zu studieren. War es das?
Wir hatten die klassische Rollenteilung. Mein Mann hat gearbeitet, war der Hauptverdiener. Von daher war es ganz gut machbar. Er hat aber in Frankfurt gearbeitet. Deshalb war ich ein stückweit auch wie alleinerziehend, hatte dafür aber keine finanziellen Probleme.
Wie kommt man von Ökotrophologie auf Soziale Arbeit?
Ich habe die Berufsfachschule im Bereich Ernährung und Hauswirtschaft gemacht, dann die FOS, ebenfalls in Ernährung und Hauswirtschaft. Das Studium hat sich so angefügt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich nie bewusst dafür entschieden. Es war eher so, dass mein Vater gesagt hat, du bist eine Frau. Irgendwie war es immer ganz okay und ganz gut gewesen. Ich habe aber gemerkt, so richtig brenne ich nicht dafür. Das Soziale hat schon lange in mir gesteckt. Dennoch war es nicht leicht mit 37 bewusst zu sagen, jetzt lege ich meinen Schwerpunkt darauf, studiere nochmal und orientiere mich neu.
Inwiefern war das eine schwierige Entscheidung für dich?
Ich wollte nicht so blauäugig sein und sagen, ich mache das jetzt, weil es mir Spaß macht, sondern habe mich gefragt, ob ich damit auch Geld verdienen kann. Das ist in der Sozialen Arbeit auch immer so eine Frage. Wir sind die schlechtbezahltesten Akademiker. Bei vielen Bekannten habe ich auch Burn-Outs mitbekommen, weil sie sich für ihre Arbeit aufgeopfert haben. Das im Vorfeld gut zu reflektieren, war wichtig. Ist es das wirklich? Kann ich das? Will ich das? Die Soziale Arbeit bietet aber auch ein breites Spektrum. Wenn ich mit einem bestimmten Klientel nicht mehr arbeiten möchte, habe ich die Möglichkeit, mich anders zu orientieren.
Ist diese Breite der Aufgabenfelder auch ein Vorteil der AWO?
Ja, es gibt immer wieder verschiedene Projekte. Man kann immer sagen, ich habe das jetzt eine Zeit lang gemacht, aber nun ist etwas anderes dran. Man hat den Freiraum zu sagen, in diese Richtung möchte ich mich entwickeln und schaue deshalb, welche Anträge ich stellen kann und ob das etwas ist, das die AWO insgesamt entwickeln möchte. Da erlebe ich unsere Vorgesetzten immer offen für Ideen.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.