Frau Prof. Dr. Irmhild Poulsen (ehem. Müller-Wiegand)erzählt von ihren Erfahrungen mit dem Punk-Projekt
|
Rumänienhilfe 1989 und 1990:
Beispiellose Hilfsaktion der Fuldaer Jugendlichen und Punker
Ein Jugendlicher der Besuchergruppe des Jugendprojekts Heinrichstraße 67, der selbst aus dem Grenzgebiet Jugoslawiens zu Rumänien stammte, berichtete nach einem Heimatbesuch über die katastrophalen Verhältnisse in den Kinderheimen in Rumänien. Die von ihm aufgenommenen Fotos veranlassten die Punks und Jugendlichen zu spontaner Solidarität. Durch einen Spendenaufruf wurden zunächst alte Bekleidung und haltbare, auch konservierte Lebensmittel gesammelt und mit einem gemieteten Kleintransporter nach Rumänien gebracht.
Daraufhin weitete sich die Spendenaktion aus: es wurde beim Träger ein treuhänderisches Konto eingerichtet und die Sachspenden der Bevölkerung stapelten sich in allen Räumen der Einrichtung bis zur Decke, sodass diese nicht mehr genutzt werden konnten. Die Punks richteten daher außerhalb ein Lager ein. Von den Rumänien-Rückkehrern wurden öffentliche Dia-Vorträge gehalten. Die hohen Geldspenden wurden für den Kauf von Lebensmitteln und Grundgütern eingesetzt. Ein Möbelhaus spendete Kinderbetten und Matratzen.
Der nächste Transport wurde von einem befreundeten Arzt (ehrenamtlich) und auch einem Redakteur der Fuldaer Zeitung begleitet. Es erschienen sechs aufeinanderfolgende Berichte über die Spendenaktion in der Presse, was den Punks vor Ort viel Sympathie einbrachte. Dem Aufruf nach einer Übernahme von Patenschaften für die Kinder folgten fast 100 Familien und Einzelpersonen. Ein Punker übernahm federführend die Patenschaftskartei.
Wegen der hohen Verkehrsbelastung tagsüber vor dem Projektgebäude wurden die angemieteten Transportfahrzeuge nachts von den Jugendlichen mittels einer ‚Menschenkette‘ beladen. Nähmaschinen, alte Herde, Matratzen, Decken, Betten, Bekleidung und Lebensmittel, Kinderspielsachen und Pakete der Paten wurden verladen. Insgesamt begleiteten die Punks sechsmal die Transporte. Und dann wurde ein Kinderheim in Rumänien im Sommer 1990 sogar von einer Gruppe unter der Leitung vom Mitarbeiter Michael Bolz insgesamt vier Wochen lang ehrenamtlich renoviert und instandgesetzt.
Eine ansonsten eher stigmatisierte und marginalisierte Jugendkultur zeigte mit dieser Aktion nicht nur Mitmenschlichkeit und Engagement, sondern auch ein großes Herz und Einsicht in die Nöte anderer Menschen.
Jugendaustausch der Punks Manchester/GB und Fulda
1992 konnte durch die Kontakte nach Großbritannien und eine 9-monatige Planungsphase der erste Jugendaustausch zwischen Punks aus Fulda und Manchester in Fulda als Gastgeber durchgeführt werden; diesem folgte 1993 ein Gegenbesuch nach Manchester und ein dritter und vierter in den darauffolgenden Jahren. Diese Maßnahme kann im Jugendhilfebereich als einzigartig bezeichnet werden, da diese Zielgruppe normalerweise von europäischen Austauschprogrammen nicht erreicht wird. Die Fuldaer Punks waren im Jugendwerk der AWO organisiert und die englischen Punks in Manchester durch den kommunalen Sozialarbeiter Rick Williams mittels Streetwork erreicht worden. Nach einigen Loyalitätstests konnte eine Vertrauensbasis zu ihm hergestellt werden und er lud die Gruppe ein, an einem Austausch nach Deutschland teilzunehmen.
Einige pädagogisch intendierte Ziele waren:
- eine 9-monatige Vorbereitungsphase und die Fähigkeit, sich den Teilnehmerbeitrag sukzessive zu verdienen
- Gemeinsames Aushandeln von Regeln (z.B. kein Alkoholkonsum)
- Einfügen in eine Gemeinschaft mit festem Rahmen
- Erfahrungs- und Erkenntniszugewinn durch die Programmpunkte (z.B. Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald)
- Lernerfahrung von Kommunikation (trotzt Sprachbarrieren) statt Ab- und Ausgrenzung
- Einblick in die soziale und kulturelle Lebenswelt gleichgesinnter Jugendlicher in einem anderen Land
- Man ist Gast in einem anderen Land und selbst Gastgeber für andere
- Motivierung zu Aktivität und Partizipation versus Lethargie und Desinteresse
- Gemeinsam kreativ zu arbeiten und eine Ausstellung zu organisieren und durchzuführen, die auch in der Presse, im Rundfunk und im Bundesministerium für Jugend Beachtung fand
- Dadurch Festigung des Selbstwertgefühls
- Entwicklung und Festigung freundschaftlicher Beziehungen, die brieflich und durch Besuche vertieft wurden
Die jungen Leute konnten sich selbst als Akteure in den Mittelpunkt des Geschehens und somit ihres eigenen Lebens rücken, wieder Regie über ihr Leben gewinnen und so durch die Jugendarbeit als ‚Mittler‘ zumindest im Ansatz aus ihrer marginalisierten Position ausbrechen können.