„Die Sprache ist bis heute ein Problem und das sicher für viele Migranten“
Adriana Oliveira ist ein AWO-Urgestein. Seit mehr als 18 Jahren arbeitet sie für den Wohlfahrtsverband und leitet heute den Bereich Integration und Bildung. Daneben kümmert sich die gebürtige Brasilianerin gemeinsam mit den Bewohnern von Ziehers-Süd um die Gestaltung des Stadtteils. Im Gespräch berichtet sie über ihren ungeplanten Umzug nach Deutschland 1998. Sie erzählt von Erfahrungen der Diskriminierung und verrät, wie ihr Kindergartenkinder beim Lernen der Deutschen Sprache halfen.
Frage:
Hier im Gallasiniring 30, wo wir dieses Gespräch führen, eröffnet am 9. Juli das erste Stadtteilcafé in Ziehers-Süd. Ist das richtig?
Adriana Oliveira:
Ja, genau. Denn ein großes Interesse der AWO und des Projekts „Soziale Stadt“ ist die Beteiligung und Aktivierung der Menschen vor Ort. Ich begleite jetzt 24 Studierende der Sozialen Arbeit, die im Rahmen ihres Forschungsmoduls Bewohner befragen: Was braucht so ein Stadtteilcafé? Wären sie bereit auch mitzuwirken? Was würden sie gerne dort sehen? Die Ergebnisse wollen wir am 14. Juli um 11:30 präsentieren.
Wieso ist es sinnvoll, die Bewohner in dieses Projekt einzubinden?
Es bringt nichts als Außenstehender zu kommen und einen Stadtteil zu gestalten, ohne die Bewohner mit einzubeziehen. Das Risiko besteht darin, dass man den Bedürfnissen der Menschen dann nicht entspricht. Im schlimmsten Fall sieht es im Stadtteil wenige Monate nach der Neugestaltung wieder so aus wie vorher, weil die Probleme weiterhin bestehen. Das heißt, die Menschen selbst müssen sich an der Veränderung beteiligen. Wir geben ihnen Werkzeuge an die Hand, damit sie selbst aktiv werden und gestalten können.
Du bist schon seit mehr als 18 Jahren bei der AWO und hast in der Zeit viele Projekte betreut. Bist du schon von Anfang an hier im Stadtteil aktiv?
Nein. 2003 habe ich bei der AWO angefangen, bin aber schon früher während des Studiums für die AWO aktiv gewesen. Damals habe ich gelesen, dass die Hochschule zusammen mit der AWO Studenten sucht, aber nur Männer. Frauen waren nicht eingeladen, was ich total diskriminierend fand. Ich habe gesagt, so geht es nicht, und bin einfach zur Infoveranstaltung gegangen. Gemeinsam mit mir war nur eine weitere Frau da, eine Kommilitonin, die ich nicht kannte. Der Professor hat uns damals erklärt, warum nur Männer eingeladen wurden. Denn es ging um das Projekt „Lohn und Brot“, wo man nur mit männlichen Klienten arbeitet. Frauen würden da für zu viel Unruhe sorgen. Ich dachte mir aber, es gibt auch junge Frauen, die Probleme mit der Integration in den Arbeitsmarkt haben. Dann können wir ein solches Projekt auch für sie machen.
Und wurde der Vorschlag umgesetzt?
Ja, wir haben dann das „Lohn und Brot“-Auto bekommen, Mädchen am Aschenberg akquiriert und als erstes gemeinsam Spielplätze sauber gemacht. Ich bin also im Rahmen dieses Theorie- und Praxisseminars zur AWO gekommen. Seitdem war ich am Aschenberg und habe ihn erst im Dezember 2014 verlassen. Dann war ich noch dreieinhalb Monate mit meinem Büro in der Hauptgeschäftsstelle und bin im April 2015 in das Projekt „Soziale Stadt“ eingestiegen. Seitdem bin ich halbtags bei der AWO „befreit“ und habe eine halbe Stelle bei der Stadt. Denn das Projekt konnte ich nur im Auftrag der Stadt machen, musste also Mitarbeiterin werden.
Welche Aufgabe Adriana in Ziehers-Süd hat
Welche Aufgaben hast du in dieser Funktion im Stadtteilbüro Ziehers-Süd?
Ich bin im Quartiersmanagement tätig. Ich schaue also, dass wir die Baumaßnahmen, die sich die Bewohner im Rahmen von zwei Zukunftswerkstätten gewünscht haben, alle begleiten und dass sie immer unter Beteiligung der Bewohner durchgeführt werden. Viele Bürger haben sich zum Beispiel schönere Wege gewünscht, auf denen man gern unterwegs ist, so dass man den Weg als Ziel wahrnimmt. Sozialarbeiter würden sagen, der öffentliche Raum muss erobert werden, damit sich Menschen kennenlernen, Vorurteile abgebaut werden. Wir haben die Wege unter dem Motto „bunt statt grau“ verschönert. Das heißt, die Bewohner kamen ins Bürgerzentrum, gestalteten Mosaiksteine und wir sorgten dafür, dass sie in den Weg integriert wurden. So identifiziert sich jeder Bürger mit dem Projekt. Ich bin die Brücke zwischen den Wünschen der Bewohner und den beauftragten Büros. Es geht um Niedrigschwelligkeit. Wenn ich gemeinsam mit anderen etwas bauen kann, sehe ich am Ende das Ergebnis. Das ist ein Punkt, der Menschen zusammenbringt.
Du hast weiterhin eine halbe Stelle bei der AWO. Was ist dort dein Arbeitsschwerpunkt?
Bei der AWO bin ich für den Bereich Integration und Bildung zuständig. Wenn man so will, habe ich den Bereich damals gegründet, weil es ihn noch nicht gab. Es sind so viele Bereiche, die ich koordiniere und miteinander vernetze, dass ich nicht nur für ein einzelnes Projekt arbeite. Ich bin für die Kollegen da, wenn Fragen entstehen. Ich bin für die Akquise von finanziellen Mitteln zuständig.
Was würde dir die Arbeit erleichtern?
Für mich wäre es toll, wenn Ministerien und Behörden in Bund, Land und Kommune eine Klarheit über das Budget der Sozialen Träger herstellen. So bräuchten wir uns keine Gedanken darüber machen, dass im Januar vielleicht fünf Kollegen keinen Job mehr haben, weil beispielsweise Projekte ohne Ersatz auslaufen. Natürlich sind die Mitarbeiter der AWO unbefristet beschäftigt, doch wir müssen immer wieder schauen, wann welche Projekte auslaufen und welche neuen wir beantragen können, um jedem auch eine Aufgabe zu geben. Es geht nicht darum, dass es keine Aufgaben gäbe, aber sie müssen bezahlt werden. Bisher hat das zwar gut geklappt, aber eine verbindlichere Finanzierung würde diesen Prozess erleichtern.
Du stammst aus Brasilien. Wie hast du es empfunden von dort nach Deutschland zu kommen?
Der Anfang war sehr schön. Ich kam in einem wunderschönen Mai und war vorher schon mehrmals im Sommer hier. Deutschland ist für mich im Sommer einfach wunderbar, es ist auch sehr lange hell, was ich aus meinem Land nicht kenne.
Wann war das?
Ich bin 1998 nach Deutschland gekommen. Ich hatte ein Rückflugticket, denn ich wollte nur ein Jahr bleiben. Das war vorher mit meinem Mann abgesprochen. In dieser Zeit wollte er einen Beruf in Brasilien finden. Ich habe in Brasilien einen Privatkindergarten geleitet und meine Mitarbeiter gebeten, mich für dieses Jahr zu vertreten. Je mehr Zeit verging, desto klarer wurde, dass mein Mann nicht mehr nach Brasilien gehen wollte. Ich habe das auch verstanden, und nüchtern gesehen war seine Entscheidung richtig. Aber für mich war das traurig. Das eine Jahr habe ich als Urlaub genossen und hatte deshalb einen anderen Blick. Ich habe eine Tochter, die damals etwa zehn Jahre alt war. Sie hat sich gut eingelebt. Nun war es an mir zu schauen, was ich mache. Für mich war klar, zu studieren. In Brasilien habe ich Lehramt mit Spezialisierung auf Schulleitung studiert, mir war aber klar, dass ich diesen Beruf hier nie ausüben kann.
Wie die Sprachbarriere Adriana vor Herausforderungen stellte
Dein Mann stammt also aus Deutschland?
Er ist Informatiker und ist in Deutschland geboren. Kennengelernt habe ich ihn in Brasilien. Er hat damals über die EDAG ein Projekt für VW in Brasilien betreut.
Hast du damals in Deutschland Diskriminierung erlebt?
Nicht direkt, denn Brasilien wird von den meisten nicht negativ bewertet, und die Kultur ist ähnlich. Ich habe auch nie Sozialleistungen gebraucht. Die Diskriminierung, die ich erlebt habe, war deshalb eine andere. Ein Beispiel: Ich war bei C&A einkaufen und wollte mit Kreditkarte zahlen. Damals musste man unterschreiben und ich wurde immer wieder nach einem Dokument mit Passbild gefragt. Wenn ich mit meinem Mann einkaufen ging, schaute man nicht einmal auf die Rückseite, um zu überprüfen, ob die Unterschrift dieselbe ist. Groß, blond: Gar keine Frage, das ist seine Kreditkarte. Klein, Ausländerin: Dreimal prüfen und einen Ausweis vorzeigen. Das empfand ich als diskriminierend. Heute habe ich ein anderes Selbstbewusstsein und hätte darüber gelacht.
Hast du das Gefühl, dass die heutige Gesellschaft offener und toleranter ist als damals?
Es war offener und toleranter, seit 2015 haben wir einen Schritt zurück gemacht. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass Deutschland ein sozial gerechtes Land ist. Man bekommt viele Chancen. Allerdings muss ein reiches Land wie Deutschland für Chancengleichheit sorgen. Ich denke, dass die Bildung, die die Eltern vorleben, ein Grund dafür ist, nicht zu studieren. Daher bin ich auch für Ganztagsschulen. Denn sind die Kinder den ganzen Tag in der Schule, eröffnet sich die Chance, dass das ihr Bildungsniveau nicht länger von ihrer Herkunft abhängig ist. Bestimmte Aufgaben müssen vom Staat erfüllt werden, dabei geht es mir nicht um die Erziehung, sondern die Bildung.
War die Sprachbarriere für dich problematisch?
Ja, die Sprache ist bis heute ein Problem und das sicherlich für viele, die nicht hier geboren oder als Kind hierher gekommen sind. Aber ich muss sagen, dass ich für meine vielen Fehler eher Sympathie erfahre. Ich empfinde mein Gegenüber heute eher als tolerant. Das hängt sicher auch mit meinem Selbstbewusstsein zusammen. Natürlich müssen Migranten die Sprache beherrschen, wenn sie hier leben. Aber die Deutschen sollten sich ebenso bemühen, sie auch zu verstehen und dürfen sie nicht lächerlich machen, weil sie vielleicht Dativ, Genitiv, Akkusativ oder Artikel durcheinanderbringen. Wichtig ist, sich gegenseitig zu verstehen.
Gab es bei dir Situation, in denen es nicht gelungen ist oder schwer gefallen ist, dich zu verständigen?
Anfangs, noch bevor feststand, dass ich in Deutschland leben würde, gab es eine witzige Situation. Ich habe früher immer wieder in Deutschland im Sommer Urlaub gemacht. Mein Mann, damals mein Freund, war an der Arbeit. Ich ging zum Karstadt. Dort gab es eine große Theke mit vielen Ledergeldbörsen. Auf einem Schild stand „ab 10 DM“. Ich habe eine genommen und ging zur Kasse. Damals habe ich immer einen 100-DM-Mark-Schein in der Geldbörse gehabt zur Sicherheit, weil ich kein Deutsch sprach und deshalb den Preis, den die Verkäuferin nannte, nicht verstehen konnte. An der Kasse gab ich der Kassiererin dann den Schein. Sie redete auf mich ein, immer dasselbe, ich habe sie aber nicht verstanden. Dann drehte sie das Display. Dort stand 160 DM. Das konnte ich nicht begreifen, weil auf dem Schild doch 10 DM stand. Diese Hilflosigkeit, nicht erklären zu können, dass doch dort ein anderer Preis stand, war schlimm. Zum Glück konnte ich mit Kreditkarte bezahlen. Zu Hause habe ich das meinem Freund erzählt und er hat mir erst einmal erklärt, was dieses „ab“ bedeutet. Daran sieht man, in welcher blamablen Situation man ohne Sprachkenntnisse landen kann.
Wie hast die Sprache dann später gelernt?
Ich bin definitiv nicht sprachbegabt. Mein Mann konnte sehr gut portugiesisch. Das war ein großes Problem, weil wir dann natürlich nicht Deutsch miteinander gesprochen haben. Bei uns gegenüber war ein Kindergarten. Ich hatte dreimal die Woche einen Sprachkurs und zweimal in der Woche war ich ehrenamtlich in diesem Kindergarten und habe mit den Kindern mein Deutsch geübt, wenn man so will. So habe ich die Sprache gelernt.
Warum sich Adriana heimatlos fühlt
Du wolltest ursprünglich gar nicht hier bleiben. Wie schwer war die Anfangszeit in Deutschland für dich?
An dem Tag als der Flieger nach Brasilien ohne mich gestartet ist, habe ich nur geheult, obwohl es eine bewusste Entscheidung war. Ich fühle mich schon wohl in Deutschland und sogar als Deutsche. Aber von Ende Oktober bis Ende März fällt es mir hier schwer: Ich will nicht aufstehen, ständig regnet es oder mein Auto ist vereist. Ich kämpfe mich durch diese Monate. Die Leute haben immer gesagt an folgende zwei Sachen gewöhnst du dich: Biertrinken und Ski-Urlaub. Ich habe bis heute kein Bier getrunken. Und Ski-Urlaub – auf keinen Fall. Es kann ein wunderschöner heißer, sonniger Tag sein. Dann bleibe ich vielleicht mal eine halbe Stunde draußen, aber mehr brauche ich nicht. Ich fühle mich im Sommer wohl. Natürlich vermisse ich auch meine Familie in Brasilien.
Bist du oft zu Besuch in Brasilien?
Zwei-, manchmal auch dreimal im Jahr. Ich lebe in Europa und kenne nicht einmal Deutschland richtig. Denn fast immer, wenn ich mich entscheiden muss, wo ich meinen Urlaub verbringe, fällt die Wahl auf Brasilien.
Wie unterscheidet sich das Leben hier von dem in Brasilien?
Wenn ich mir aus beiden Ländern die Rosinen rauspicken könnte, ergäbe das ein Traumland. Diese Leichtigkeit der Brasilianer, nicht so weit in die Zukunft zu schauen und sich zu sorgen, was passieren könnte, die Lust auf das Feiern und die Überzeugung, dass das Leben schon irgendwie schön wird kombiniert mit der Zuverlässigkeit der Deutschen, immer zu planen, verschiedene Szenarien zu berücksichtigen, wäre traumhaft. Aber natürlich ist das nicht möglich. Heute bin ich dazu verdammt heimatlos zu sein. Bin ich in Brasilien vermisse ich Deutschland. Auf dem Rückflug, da bin ich noch nicht gelandet, vermisse ich schon Brasilien. Ich bin nie zu 100 Prozent zu Hause.
Brasilien wird regiert von einem Mann, der Corona leugnet und die Abholzung des Regenwalds vorantreibt statt ihn zu schützen. Wie hast du Jair Bolsonaros Wahl zum brasilianischen Präsidenten 2018 empfunden?
In unserem Familienchat auf WhatsApp gab es einen Bruch, da sind 50 Personen drin. Es gab die Bolsonaristen und die Anhänger von Lula. Irgendwann gab es Diskussionen, die man sich gar nicht vorstellen konnte. Gesund und niveauvoll war das nicht mehr. Einige haben dann die Gruppe verlassen und die weniger politischen Familienmitglieder wie meine Mutter haben daraufhin gesagt, jetzt ist hier Politik verboten. Ich war sehr enttäuscht, dass viele in meiner Familie Bolsonaro gewählt haben. Heute findest du kaum jemanden, der das freiwillig zugibt. Ich hoffe, dass wir ihn nächstes Jahr los sind. Dass der Mann krank ist, ist keine Frage. Das beweist er jeden Tag.
Das Gespräch führte unser Mitarbeiter Toni Spangenberg.